Wie man uralte Sprachen wieder zum Leben erweckt

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Wie man uralte Sprachen wieder zum Leben erweckt

Zentrum für Sumerische Studien
Veröffentlicht von Wolf Wieland in Altorientalistik · 19 August 2022
Als Beispiel soll uns die sumerische Sprache dienen. Sumerisch wird in Keilschrift notiert. Diese Sprache ist über den Umweg über die akkadische Sprache – die die gleiche Schrift verwendet - Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckt worden. Seither ist die sumerische Sprache die älteste Sprache der Menschheit, von der es schriftliche Aufzeichnungen gibt. Die sumerisch-akkadische Keilschrift besteht aus einer Vielzahl von Zeichen, die teilweise Logogramme (Wortzeichen), überwiegend aber Phonogramme (Silbenzeichen) sind. Um diese Schrift in eine lesbare Form zu übertragen, wird die Keilschrift zunächst Zeichen für Zeichen transliteriert, das bedeutet, in lateinisch geschriebene Silben umgesetzt und die einzelnen Silben eines Wortes mit Bindestrichen verbunden. Dieses erste Ergebnis der Lesbarmachung erlaubt es noch, von jeder transliterierten Silbe eindeutig auf das dahinter stehende Keilschriftzeichen zu schließen. Dabei setzt man -  für den Laien zunächst unverständlich – vor manche Silben hochgestellte Buchstaben und hinter manche Silben tiefgestellte Zahlen. Warum, wollen wir uns jetzt genauer anschauen.


Das vorstehende Logogramm steht für „Gott“, sumerisch „Dingir“. Es steht immer vor einem Gottesnamen, wird aber dort (in anderen Fällen natürlich schon) nicht mitgelesen. In der Transliteration wird folglich vor der ersten Silbe des betreffenden Eigennamens eines Gottes ein d gesetzt. Auf die Vorstellung weiterer Logogramme des Sumerischen will ich hier verzichten, ein konstruiertes Beispiel aus der deutschen Sprache kann die Verzwicktheit aber gut verdeutlichen: Nehmen wir das Wort „Zweifel“. Aufgeteilt in die Silben „Zwei“ und „fel“ könnte man es in Keilschrift mit den Logogrammen für „2“ und für „Fell“ schreiben. Wer aber den Lautwert der Worte nicht kennt, kommt nie auf die eigentliche Bedeutung. Hier noch ein Beispiel aus der englischen Sprache: dort wird für „und so weiter“ gern „etc“ geschrieben. Das sei jetzt mal unser „Logogramm“. Der Lautwert im Englischen wäre an und für sich „i-ti-si“. Das sagt aber kein Mensch, stattdessen jedoch „and so on“. Wenn man das weiß, kann man nebenbei noch feststellen, dass „etc“ aus einer anderen Sprache kommen muss und nicht eigentlich englisch sein kann (es ist natürlich lateinisch und wird „etcetera“ gelesen). Genau mit solchen Überlegungen müssen sich die Altorientalisten beim Transliterieren der sumerischen Sprache herumplagen – leider können sie keinen lebenden Sprecher befragen.
Eine tiefgestellte Zahl nach einer Silbe in der Transliteration, z.B. „da4“ bedeutet, dass dahinter das vierte Keilschriftzeichen aus dem sumerischen Glossar einer Reihe von vier oder mehr gleichlautenden Keilschriftzeichen steht. Es gibt also eine Reihe unterschiedlicher Schriftzeichen, die den gleichen Lautwert aufweisen, aber, falls sie sich auf Logogramme beziehen, trotzdem verschiedene Bedeutungen haben. Die nachfolgende Tabelle soll das verdeutlichen:


Silben, die aufeinanderfolgen, können aus Vokalen oder aus der Kombination von Vokal und Konsonant bestehen. Folgendes könnte man z.B. antreffen: BA-AN oder gar BA-A-AN, oder AN-UN-NA-KI. Wer so etwas aussprechen soll, glaubt vielleicht, das erste, kurze Wort sehr gedehnt sprechen zu müssen wegen der Verdoppelung oder gar Verdreifachung des Vokals "A", und beim zweiten Wort wird er wahrscheinlich denken, das "U" vor den beiden "N" müsse er besonders kurz aussprechen, um dem folgenden Doppel-N (wie bei "Können") gerecht zu werden. Leider gibt es dafür überhaupt keine Anhaltspunkte. Die irrige Vermutung, dass zwei aneinanderstoßende Vokale oder Konsonanten die Ausprache beeinflussen könnten, ist nur dem dummen Umstand geschuldet, dass Silben eben oft aus zwei Buchstaben bestehen und die Sumerer und Akkader folglich nicht anders schreiben konnten.
Damit der (Vor-)Leser von solchen Irritationen nicht verunsichert wird und sich auf intuitives Sprechen konzentrieren kann, transkribiere ich die wissenschaftlichen Transliterationen zu einer normalisierenden Form, wobei ich die Bindestriche und die Doppelungen konsequent weglasse, bis auf wenige Ausnahmen. So würde bei unseren fiktiven Beispielen aus

   
So ist durch diese Vorgehensweise ein Text aus "normalen" Wörtern entstanden, der sich von deutsch notierten Texten formal nur durch einige Sonderzeichen wegen abweichender Aussprache unterscheidet. Jetzt kommt die eigentliche Sprecharbeit, die langwierig ist. Zunächst sperrt sich die deutsche Zunge gegen viele "merkwürdige" Wortkonstruktionen - man verhaspelt sich leicht. Hat sich dies erst einmal gelegt, wird es nötig, die deutsche Übertragung stets im Blick zu haben, damit man aus dem Wissen, was man da eigentlich liest, Schlüsse auf etwaige Betonungen und die Satzmelodie ziehen kann. Allerdings könnte man damit auch ein "deutsches Empfinden" auf die alte sumerische Sprache übertragen, was natürlich nicht angemessen wäre - erinnern wir uns beispielsweise daran, dass deutsche Sätze, etwa ins Englische, Französische oder Türkische übertragen, auch ganz andere Satzmelodien aufweisen als im Deutschen. Deswegen sollte man sich hier zurückhalten und erst abwarten, was die nachfolgend anstehende "Rhythmusarbeit" dem Textaussprechen abverlangt. Wie die Sumerer wirklich gesprochen haben könnten, weiß kein Mensch, da bis heute keine verwandte Sprache gefunden wurde. Auch denkbare Abweichungen beim Sprechen von der schriftlichen Notation (englisches Beispiel: "Worcestersauce" --> "Wustersosse") werden wohl auf ewig unerkannt bleiben.

Zum babylonischen Neujahrsfest wurde das gesamte Enuma Elisch deklamiert und gesungen.
Dennoch hängt man nicht ganz vage in der Luft, denn zum Glück hatten die Akkader soviel Bewunderung und Respekt vor dem Sumerischen, dass sie es noch 2000 Jahre lang nach dessen Aussterben als lebender Sprache als Sprache der Wissenschaft, des Kultus, der Diplomatie und offizieller Verlautbarungen weiterbenutzt haben - ähnlich wie in Europa bis ins 20. Jahrhundert mit dem Lateinischen umgegangen wurde. Die Lautwerte sind also gesichert, denn wie sich das Akkadische angehört haben könnte, ist aus der Verwandtschaft zu anderen semitischen Sprachen wie Aramäisch, hebräisch und arabisch in Grenzen erschließbar. Die Akkader, die über ein Jahrtausend mit den Sumerern in Mesopotamien in Koexistenz lebten, hielten die sumerische Sprache für besonders seriös, geheimnisvoll und "magisch". Sicher darf man daraus folgern, dass sich Sumerisch weder lallend noch krächzend angehört hat, sondern eher vollmundig, feierlich und wohlklingend.
Wir haben es bei den schriftlichen Hinterlassenschaften der Sumerer mehrheitlich mit sakralen Texten zu tun, die zu religiösen Anlässen getragen deklamiert oder mit Orchesterbegleitung solo und in Chören (wahrscheinlich wechselweise) gesungen wurden. Dem Charakter der Texte nach darf man erwarten, dass auch entsprechend formuliert wurde, womit ich meine, dass sicher auf schöne Sprache Wert gelegt wurde, die auch einen angemessenen Rhythmus aufweisen wird. Dies läßt sich tatsächlich erspüren, wenn man einmal versucht, sumerische Texte rhythmisch zu lesen, wobei es sehr hilft, dabei die Arme wie ein Dirigent zu bewegen. Über kurz oder lang werden sich dann die gesprochenen Worte in den richtigen Rhythmus einpendeln, man wird die "richtige" Betonung finden und man wird den kunstvollen Satzaufbau erst richtig gewahr. Ja, selbst gereimte Zeilenpaare stellen sich plötzlich ein, die man nie zuvor (beim stillen Lesen) bemerkt hatte. Die ganze Harmonie sumerischer Sprachkunst wird so wieder lebendig, und plötzlich stoßen einem ein paar Wörter als im Zusammenhang überraschend sperrig auf und man ändert unwillkürlich deren Aussprache. So kommt man mit der Zeit zu einer gewissen "Einschleifung". Dieser Prozeß wird sich zwangsläufig einstellen, wenn man sich in der von mir beschriebenen Weise mit den Aufzeichnungen beschäftigt.
Ich bezeichne diese Art, mit den Texten umzugehen, als "experimentelle Altorientalistik". Je mehr der Experimentierende praktische Erfahrung mit Sprachen ausserhalb der indogermanischen Sprachfamilie gesammelt hat (z.B. ungarisch, türkisch, arabisch), desto leichter wird er den "Akzent" verlieren, der seine Sprechbemühungen als "verkleidetes Deutsch" entlarven könnte - das Sumerische klingt "authentischer". Ob es das wirklich jemals sein kann, wissen allerdings nur die Götter, denn Sumerisch ist bis zum heutigen Tag noch immer eine "Sprache ohne Beispiel".



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