Über den Informationswert antiker Quellen

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Über den Informationswert antiker Quellen

Zentrum für Sumerische Studien
Veröffentlicht von Wolf Wieland in Altorientalistik · 18 November 2020
Die Stadt Babylon um 570 v.Chr.

Es ist erstaunlich und zunächst kaum glaubhaft, dass die fast 6.000 Jahre währende Hochkultur des alten Zweistromlandes, die zu ihrer Zeit das Bild der östlichen Welt weithin bestimmte, und deren Ausstrahlung, wie wir heute wissen, bis nach Ägypten und Jonien, Persien, Indien und Südarabien reichte, dem Gedächtnis der späteren Menschheit fast gänzlich entschwinden konnte, und dass ihre Schöpfer, die Sumerer, nicht einmal mehr dem Namen nach bekannt blieben. Die Welt des Alten Orients zeichnete sich jedoch schon bei den griechischen Historikern nur noch recht vage ab und hinterließ selbst im Alten Testament - einer Schöpfung des ersten vorchristlichen Jahrtausends - nur ein äußerst blasses Bild. Fragen wir nach den Gründen dieses rätselhaften Phänomens, so liegt es daran, dass Jahwes Volk einerseits seine heidnischen Nachbarn bewußt übersah, dass sich andererseits die geistige Kultur des Griechentums weithin selbstgenügte und das erwachende historische Denken ihrer Schriftsteller schlicht zu spät kam, um die bereits verschütteten Quellen wieder zum Fliessen zu bringen.
Die Zerstörung des Assyrerreiches am Ende des 7. Jahrhunderts v.Chr. war so radikal, dass jegliche Spuren davon binnen Monaten verschwanden. Und das Perserreich, das Mesopotamien danach für 200 Jahre beherrschte, war den Griechen von Anfang an so bedrohlich und verhaßt, dass sie sich seiner stark babylonisch getönten Kultur bewußt und mit Abscheu verschlossen. Eine tiefe Kluft hatte sich zwischen Okzident und Orient aufgetan, und kaum eine Brücke führte vom einen Ufer zum anderen. Der Versuch Alexander des Großen, die beiden Welten zu vereinen, mißlang: Sein Seleukidenreich verging zwischen den beiden mächtigen Schraubzwingen Rom und Partherreich wie eine Blase, und die Grenze im Osten erstarrte zu einem höchst selten gelüfteten Eisernen Vorhang. So geschah es, daß in unwahrscheinlich kurzer Zeit alle Kunde von den Menschen an Euphrat und Tigris und den Werken, die sie geschaffen hatten, verstummte und in wenigen Fällen allenfalls zur seltsam anmutenden Fabel wurde.

Das blieb übrig: Die Ruinen von Babylon.

Der Einbruch des wenig geschichtsinteressierten Islam im 7. Jahrhundert n. Chr. erhöhte noch die Scheidewand zwischen Orient und Okzident. 1258 erreichten die Mongolen Mesopotamien und brachten Grauen und Verwüstung, 1627 schließlich die Türken. Unablässig rieselte, jahrhundertelang, der vom ewigen Wind der Wüste herangewehte Sand über die Ruinen der uralten Städte, in denen nun kein Mensch mehr hauste. Nur umherziehende Beduinen warfen einen Blick auf sie, blieben ihnen aber fern, denn böse Dämonen trieben - so glaubten sie - in den Trümmern ihr Unwesen. Die Welt der großen Eroberer, Architekten und Administratoren mit ihrem Gefolge von Wirtschaftsfachleuten, Künstlern, Schreibern und Dichtern - jene grandiose Welt, über die Götter mit so klangvollen Namen wie Anu, Enlil oder Ea, Sin, Schamasch, Ischtar, Marduk, Nabu und Nanna geboten hatten - war begraben und vergessen, so, wie es die eifernden Propheten Israels herbeigesehnt hatten.


Babylon um 600 v. Chr. von Westen gesehen - eine Metropole mit 500.000 Einwohnern

Zu den wenigen, die in der klassischen Griechenzeit die Mauer des Schweigens zu durchbrechen versuchten, gehörte der in Athen lebende Herodot (ca. 490 - 420 v.Chr.), der auf seinen Reisen nach Vorderasien, Ägypten und Afrika wohl um die Mitte des 5. Jahrhunderts auch die damalige persische Provinzhauptstadt Babylon besuchte. Das geschah knapp 100 Jahre, nachdem der letzte babylonische König, Nabonid, 539 v.Chr. von den Persern entthront wurde. Aber wie dürftig ist das, was der große Gelehrte - trotz offener Augen und Ohren - in seinen Historien von Babylon und seinen Bewohnern zu berichten weiß! Unsere wiedergewonnene Kenntnis des Alten Orients und vor allem die Ergebnisse der deutschen Ausgrabungen in Babylon selbst (Koldewey 1898-1917) befähigen uns heute, Herodots Angaben kritisch zu überprüfen; das Ergebnis ist äußerst enttäuschend.

Es befremdet, dass es Herodot als Historiker offenbar nicht gelungen ist, auch nur das Geringste über die lange und wechselvolle Geschichte des Landes zu erfahren. Er ist noch nicht einmal in der Lage, auch nur einen einzigen babylonischen Königsnamen richtig zu zitieren. Selbst der letzte Herrscher, Nabonid, erscheint in der Mißform Labynetos. Seltsam ist ferner, dass Herodot die erste Eroberung Babylons durch Kyros 539 zugunsten der zweiten durch Dareios 522 unterschlägt. Doch mag man ihm das alles durchgehen lassen, weil er die aramäische Landessprache nicht beherrschte und überhaupt mit den verbliebenen babylonischen Gelehrten anscheinend keinerlei Kontakt bekam. Schwerer wiegt schon, dass er das Neujahrsfesthaus und den Sommerpalast Nebukadnezars - nur 3 km nördlich vom Stadtzentrum - nicht kennt und sogar den Mauerring der inneren Stadt völlig falsch mit 23 km angibt, während er in Wirklichkeit nur 8,5 km misst. Den bereits verfallenen doppelten Mauerring sah Herodot als eine einzige Mauer an, auf der angeblich bequem ein Viergespann hätte fahren können. Die farbige Herrlichkeit des Ischtartors, das er als Tor der Semiramis bezeichnet, mit seinen imposanten Stier-, Löwen- und Schlangendrachen-Reliefs entging ihm ebenso wie die Pracht des Nebukadnezarschloßes. Auf der berühmten Prozessionsstraße mit ihrer rot-weißen Quaderpflasterung lag in den Tagen seines Besuches wohl schon eine hohe Schuttschicht, die von den angrenzenden Mauern stammte, so daß der griechische Reisende ahnungslos über sie hinwegschritt, und ebenso übersah er die Reste jener Hängenden Gärten, die spätere griechische Schriftsteller als Weltwunder priesen und gleichfalls der Semiramis zuschrieben. Auffälligerweise hören wir auch kein Wort über die mehr als 50 anderen Heiligtümer der Stadt neben dem Marduk-Tempel, und bei der Beschreibung des letzteren wird Marduks zentrale Kultstätte mit einer Fläche von immerhin 6.400 m² nur sehr nebensächlich erwähnt. Falsche Vorstellungen hatte Herodot auch von der berühmten Euphratbrücke, die die beiden Teile der Stadt verband: Natürlich wurde bei ihr ein Segment des hölzernen Oberbaus zwischen zwei Sockeln hochgezogen. Aber das geschah gewiß nicht, wie sich Herodot erzählen ließ, um Räubern und Dieben das Herüberwechseln von einem Flußufer zum anderen zu erschweren, sondern um zu bestimmten Stunden den hochmastigen Segelschiffen die Durchfahrt zu ermöglichen. Die offenbare Leichtgläubigkeit des griechischen Gelehrten, die ihm bereits von Thukydides vorgeworfen wurde, hat ihn auch noch zur Aufzeichnung zweier Geschichten aus dem babylonischen Leben verleitet, die unserem heutigen, auf keilschriftlichen Aussagen beruhenden Bild, widersprechen. Es sind die Anekdoten vom Heiratsmarkt und von der Prostitution der Frauen im Dienst der Ischtar, die er Mylitta nennt.


Wildesel (Onager), wie sie in der mesopotamischen Steppe häufig anzutreffen sind.

Dass die so berühmt gewordene Anabasis Xenophons (ca. 430-354 v.Chr.) bei ihren Angaben über das 401-399 von den Zehntausend durchzogene Mesopotamien noch karger bleibt, darf nicht verwundern: das etwa 100 Jahre nach Herodot geschriebene Buch des gelehrten Sokrates-Schülers ist eher ein Bericht über den Feldzug Kyros' II gegen den persichen König Artaxerxes II Mnemon und als solcher für uns wenig ergiebig. Immerhin hören wir einiges über das Land - "überall gleichmäßig eben wie ein Meer und mit Wermut bewachsen... Bäume gab es keine, aber mancherlei Tier, am meisten Wildesel, auch viele Strauße, ebenso kamen Trappen und Gazellen vor" - und erhalten damit die reizende Beschreibung des mesopotamischen Wildesels (Onager). Die Truppen konnten aus dem Land zur Verpflegung Dattelwein und Hirsebrot requirieren - beides reichlich, und genossen auch die ausgesuchten, bernsteinfarbigen Speisedatteln und Palmherzen, von letzteren sie aber heftiges Kopfweh bekamen. Kanäle wurden auf festen oder Schiffbrücken überschritten, und bei dieser Gelegenheit äußert sich Xenophon kurz über die Wasserwirtschaft des Landes: "Diese Kanäle hatten ihr Wasser vom Tigris. Von ihm aus waren Gräben in das Land eingeschnitten, zuerst große, dann kleinere, zuletzt nur noch dünne Rinnsale, wie in Griechenland für die Hirsefelder".
Bei der Schilderung des tigrisaufwärts gehenden Rückmarsches erwartet der Leser mit einer gewissen Spannung den Zeitpunkt, an dem das Griechenheer die Plätze der alten Assyrer-Hauptstädte Assur, Kalach und Ninive passiert. Doch Xenophon identifiziert diese Orte nicht mehr. Weiter flußaufwärts fällt ihm eine "große, verlassene Stadt" auf, die er Larisa nennt und als einst von den Medern bewohnt bezeichnet. "Die Stadtmauer, aus gebrannten Ziegeln erbaut, war 25 Fuß breit, 100 Fuß hoch; Ihr Umfang 2 Parasangen (10 km), das steinerne Fundament war 20 Fuß hoch... Neben dieser Stadt stand eine steinerne Pyramide von der Breite eines Plethron und der Höhe zweier Plethren (30 bzw. 60 m)." Hier dürfte es sich um Reste von Kalchu (Nimrud) handeln, die heute wieder ausgegrabene Assyrer-Hauptstadt des 9. und 8. Jahrhunderts und die Ruine eines ihrer Tempeltürme. Einen Tagesmarsch weiter fällt Xenophon eine einsame Ringmauer auf, "die wohl eine große Stadt umgab"; auch sie soll einst von Medern bewohnt gewesen und von den Persern erst eingenommen worden sein, als "Zeus die Einwohner durch Donner erschreckte". Wenn Xenophon hier (was anzunehmen ist) Ninive meinte, so ist ihm jedenfalls der Name des Ortes nicht genannt worden; er nennt ihn Mespila. Mit dem Eintritt ins Bergland verläßt das Heer, das nun auf reiche Viehherden trifft, mesopotamisches Gebiet. Xenophons dürftige Zeugnisse über das Zweistromland finden somit hier ihren Abschluss.



Kalchu, die assyrische Hauptstadt, 612 v. Chr. zerstört. Künstlerische Rekonstruktion des 19. Jahrhunderts von James Fergusson nach den wissenschaftlichen Befunden.

Dass andere Griechen von Bildung dem ihnen so fremdartig anmutenden Land größere Aufmerksamkeit widmeten, beweisen zwei Menschenalter später Aristobul und weitere Teilnehmer am Feldzug Alexanders des Großen, deren Eindrücke uns von Strabon (63 v.Chr. - 20 n. Chr.) im vorletzten Buch seines 17 Bände umfassenden Werkes Geographika erhalten geblieben sind, dem Band, der Assyrien und angrenzenden Gebieten gewidmet ist. Strabon hat - wenn er auch den überlieferten fabelhaften Maßen der babylonischen Stadtmauer nicht widerstehen konnte, und das Marduk-Zikkurat nur noch als "Grabmal des Gottes Belos" zu deuten weiß - eine ungefähre Vorstellung von den Hängenden Gärten, die er - nicht unrichtig, wie sich bei den Grabungen erwiesen hat - als pfeiler- und bogengestützte Dachgärten beschreibt. Ihm ist es wichtig, von der Baumarmut des Landes und der daraus resultierenden Bauweise zu berichten, er erwähnt die rivalisierenden priesterlichen Astronomenschulen, erläutert die Herkunft der von Euphrat und Tigris geführten Wassermengen und schildert zutreffend die Rolle der Dattelpalme, die weiteren Landeserzeugnisse und die hohe Fruchtbarkeit des bebauten Gebietes, die er als etwa dreihundertfältig angibt. Weiter ist ihm die Wichtigkeit des reichlich vorkommenden Asphalts für die babylonische Wirtschaft, die Bedeutung des Sesam-Anbaus für die Ölgewinnung und dies und jenes von Sitten und Tracht der Landesbewohner bekannt. Aus ihrer Geschichte weiß er um das Schicksal Ninives - "Die Stadt Ninive verschwand sofort nach dem Sturz der Syrer (=Assyrer)" - wie auch um den durch die Gründung Seleukias verursachten Niedergang Babylons. Sogar einige Kanäle, darunter der berühmte, heute noch so genannte Königsfluß, sind ihm geläufig, und daran anschließend bietet Strabon eine vorbildliche Beschreibung der Kanalwirtschaft des Landes:

"Da der Euphrat, wenn der Schnee Armeniens im Frühjahr geschmolzen ist, zu Beginn des Sommers anschwillt, würde er notwendigerweise die Felder überschwemmen und versumpfen, wenn man nicht das überschüssige Wasser in Gräben und Kanäle ableitete, wie beim Nil in Ägypten. So sind die Kanäle entstanden. Sie bedürfen aber großer Nachhilfe, denn die Erde ist tief, weich und nachgiebig, so daß sie von der Strömung leicht weggeschwemmt wird und die Ebenen entblößt, die Kanäle aber füllt, und der Schlamm leicht die Mündungen verstopft. So erzeugt dann wieder der Wasserüberschuss auf den Ebenen am Meer Seen, Sümpfe und Schilfwälder... Solche Überschwemmungen gänzlich zu verhindern, ist zwar vielleicht nicht möglich, aber ihnen vorzubeugen guter Herrscher Pflicht. Die Aufgabe besteht darin, ein zu starkes Austreten des Flusses durch Eindämmung, die Füllung mit Schlamm durch Reinigung der Kanäle und Offenhalten ihrer Mündungen zu verhindern. Die Reinigung ist leicht, die Eindämmung aber erfordert viele Hände; denn da die Erde nachgiebig und weich ist, trägt sie den aufgeworfenen Schlamm nicht, sondern zieht ihn mit fort und veranlaßt in unangenehmer Weise ein Verstopfen der Mündung. Aber Eile tut not, die Kanäle schnell zu verschliessen, damit sich nicht alles Wasser aus ihnen verläuft. Denn wenn sie im Sommer austrocknen, wird auch der Fluß trocken und kann dann, wenn es am nötigsten ist, dem durchglühten und versengten Land die notwendigen Wassermengen nicht abgeben. Es macht dann keinen Unterschied, ob die Feldfrüchte durch Überfülle des Wassers eingehen oder durch Wassermangel vertrocknen. Aber auch die nutzbringende, durch die beiden erwähnten Schwierigkeiten gefährdete Schiffahrt kann nicht bestehen, wenn die Kanalmündungen nicht schnell geöffnet und wieder verschlossen werden, so daß die Kanäle stets Mittelhöhe haben und das Wasser in ihnen weder überfließt noch fehlt."

Dieser Text Strabons hat den Wert eines Standardberichts; keilschriftlich immer wieder bestätigt, bleibt er kulturgeschichtlich hochbedeutsam.



Marschland im Süden Iraks

Noch ältere und genauere Beschreibungen des Zweistromlands und seiner Bewohner sollten wir von der alttestamentarischen Literatur erwarten, die ja in der Hauptmasse mit dem neuassyrischen und babylonischen Reich zeitgenössisch ist. Indes werden wir auch hier enttäuscht. Die offenbar alte Geschichte von Abrahams Kampf mit den Ostkönigen (Gen.4) ist schwer zu deuten, gelegentliche historische Einschübe - etwa über Sanheribs Ermordung (2. Kön. 19,36 f) - und die Erwähnungen assyrischer und neubabylonischer Feldzüge nach Syrien und Palästina sind wenig ergiebig. Und wenn wir von Jesajas Weheruf über Assur (Kap. 10) und dem Jubelgesang Nahums über Ninives Fall (Kap. 2,4-3,7) absehen, so bleibt das Material - trotz 60jährigem Aufenthalt der Juden im babylonischen Exil - von ähnlicher Dürftigkeit.

Verfolgen wir die biblischen Aussagen zum Thema nach ihrer vermutlich zeitlichen Abfolge, so hat uns die berühmte Turmbaulegende in Genesis II (dem ältesten jahwistischen Erzähler. Die frühere Vermutung, der Text stamme aus dem frühen 10. Jhd. v. Chr. wird heute allgemein angezweifelt) offenbar einen Eindruck von den gewaltigen Zikkuraten und dem Völkergemisch im Zweistromland aufbewahrt, während eine Bußrede des Propheten Amos (5, 26, ca. 760 v. Chr.) den Pomp mesopotamischer Götterprozessionen widerspiegelt. Die Geschichte von Achans Diebstahl und Steinigung (Jos. 7,21, 8, 7. Jhd.) kennt den Export babylonischer Textilien nach Palästina. Man verurteilt in den streng jahwistischen Kreisen den mesopotamischen Kult von Sonne, Mond und Sternen, der unter "abgöttischen" Königen sogar im Jerusalemer Tempel nachgeahmt wurde, verwirft die babylonische Praxis der Zukunftsbestimmung durch die Leberschau und erzählt sich mit Abscheu das Bemühen der nach 722 aus Assyrien ins eroberte Samaria Umgesiedelten, ihren angestammten Göttern dort neue Bilder und Kultstätten zu errichten - wobei übrigens nur ein einziger Göttername, der des Pestgottes Nergal von Kutha, korrekt überliefert wurde (2. Kön. 17, 30). Ezechiel, der nach 579 selbst als Deportierter in Babylon lebte, nennt seine Zwangsheimat verächtlich "Krämerland" (16, 29; 17, 4), schildert aber auch einmal die dort übliche Kleidung (23, 14), und die Heimattreuen saßen trauernd an den Wassern von Babylon, den zahlreichen Kanälen (Ps. 137). In den Klageliedern des Deuterojesaja hören wir gelegentlich von Bel (Marduk) und dem Gott Nabû, wie auch von der Dämonin Lilîtu (Jes. 34, 14; 46, 1), und Deuterojesaja ist es auch, der die babylonischen Astronomen als Himmelsvermesser verspottet (Jes. 47, 13) und die schwarze Magie der "Chaldäer" anprangert (47, 9, 11). Noch in der spätesten Schrift des Alten Testaments, dem um 160 v. Chr. entstandenen Buch Daniel (2, 2), wirkt der Eindruck der übermächtigen Geheimwissenschaften Babylons nach, wenn erzählt wird, wie Nebukadnezar "Zeichendeuter, Wahrsager, Beschwörer und Chaldäer" zu sich gerufen habe, um sich von ihnen einen quälenden Traum deuten zu lassen.
Viel mehr läßt sich dem ersten Teil der Bibel an Aussagen über den mächtigen Nachbarn an Euphrat und Tigris nicht abringen, und das muss uns nicht wundern: Die Schriften des Alten Testaments sind eine religiöse Sammlung, in der die Herrscher von Assur und Babel höchstens peripher als Zwingherren und ihre Städte als Brutkästen wüster Abgötterei vorkommen. Das Land der zwei Ströme war der jüdischen Intelligenz suspekt; das erklärt ihre Zurückhaltung, die übrigens ebenso für Ägypten gilt. In der neutestamentarischen Offenbarung Johannis gipfelt Babylons Rolle schließlich unverdient als "Mutter der Buhler und aller Greuel auf Erden" (16, 19; 17, 5; 18, 21).

Nun meldet sich indes ein gebildeter Babylonier selbst mit einem in Griechisch geschriebenen Werk als Zeuge für sein Land. Es ist der Mardukpriester Berossos, der im 3. Jahrhundert v. Chr. zuerst in Babylon, später als Leiter einer Astrologenschule auf der Insel Kos lebte und drei Bücher des Titels Babyloniaka verfaßte. Berossos' Werk ging im Original leider verloren, wir finden jedoch Ausschnitte und Zitate bei gut zwei Dutzend antiken bis frühchristlichen Autoren. Doch wenn Berossos auch hauptsächlich Richtiges zur Geschichte seines Volkes geschrieben hat, schweigt er doch leider völlig über dessen Kulturleistungen.


Martin van Valckenborch (1534 - 1612), Der Turmbau von Babel

So breitete sich denn das große Schweigen über Geschichte und Kultur Mesopotamiens. Es verdichtete sich im Lauf eines Jahrtausends immer mehr, bis Pilger, verirrte Kreuzfahrer und erste Reisende des Mittelalters neue Kunde von den übriggebliebenen Zeugnissen seiner einstigen Größe ins Abendland brachten. Zunächst war es der biblische Turm von Babel, der die Gemüter bewegte. Der spanische Jude Benjamin von Tudela suchte ihn 1165 n. Chr. bei der hochaufragenden Ruine Birs Nimrud (Kalchu) und war damit dem tatsächlichen Platz schon recht nahe; denn er befand sich in Borsippa, Babylons Schwesterstadt. Er war es auch, der in der Nähe der Stadt Mossul die Reste des alten Ninive wiederfand.


Die Reste des Ziggurates von Borsippa ("Turm von Babel")

Um 1400 brachte der im Krieg Sigmunds von Ungarn gegen die Türken in Gefangenschaft geratene und danach in mongolische und türkische Dienste getretene bayerische Ritter Hans Schiltberger bei seiner Heimkehr Kunde von Babylons verlassenen Mauern. Im 16. Jhd. berichtete der deutsche Arzt Rauwolff, der auch Ninive besuchte, der Venediger Balbi und der englische Kaufmann Eldred vom babylonischen Turm, den sie in Aqarquf - der Kassitenhauptstadt Dur-Kurigalzu - wiedergefunden zu haben glaubten. Der Italiener Pietro de la Valle schließlich hielt sich 1616 in den Ruinen Babylons und 1625 in Muqajjar - dem alten Ur und somit der Heimat Abrahams - auf und brachte aus beiden Orten Keilschrifttafeln mit; es waren die ersten, die das Abendland je sah. Weitere Reisebeispiele folgten im 18. Jhd. und wiederum 100 Jahre später begann das neue Zeitalter der Entdeckungen, in dem die sich aus anfänglicher planloser Schatzgräberei entwickelnde Spatenwissenschaft mit Männern wie Paul Emile Botta, Victor Place und Jules Oppert als Vertreter Frankreichs, Austen Henry Layard, Henry Creswicke Rawlinson und William Kenneth Loftus aus den Reihen der englischen Forschung die Wiedererschließung der altorientalischen Hochkultur und der Keilschrifturkunden in Angriff nahm. Als 1857 vier Gelehrte unabhängig voneinander einen assyrischen Keilschrifttext fast gleichlautend übersetzten und damit die Entzifferung dieser Schriftgattung als gelungen gelten konnte, begannen die Originalurkunden zu reden. Die haben nun freilich so viel zu berichten, dass sie auch heute weder verstummt noch ausgeschöpft sind, sondern uns mit fast jedem Fund Neues zu sagen wissen. Dabei wurden bisher von den vielen tausend Trümmerhügeln Mesopotamiens kaum mehr als 50 mehr oder weniger vollständig erforscht.


Unter Verwendung eines Extraktes aus: Hartmut Schmökel, Kulturgeschichte des Alten Orient, Kröner 1961, Kapitel "Quellen und Grundlagen"


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