Gab es bei den Mesopotamiern Menschenopfer?
Veröffentlicht von Wolf Wieland in Altorientalistik · 26 Dezember 2023
Den altorientalischen Kulturen wurden verschiedentlich Menschenopfer vorgeworfen. Vor allem aus alttestamentlicher Sicht wurden solche Vorwürfe erhoben. Viele Theologen des 19. Jahrhunderts sprachen den alttestamentlichen Aussagen und Hinweisen auf den Alten Orient Beweiskraft und historische Richtigkeit zu. Selbst in die noch junge Wissenschaft der Assyriologie sickerte diese Sichtweise ein, und alle archäologischen Befunde wurden zunächst unter diesem Gesichtspunkt betrachtet. Erst die Auswertung der massenhaften Keilschriftfunde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts brachte eine Wende: Je genauer die Kenntnis der akkadischen und sumerischen Sprache wurde, desto klarer und eindeutiger konnten die Behauptungen von Menschenopfern zurückgewiesen und ad absurdum geführt werden.
Es zeigte sich, dass die Anschuldigungen der alttestamentlichen Autoren durchweg Polemik war: Die jüdische Religion, die sich innerhalb weniger Jahrhunderte von der Monolatrie zum absoluten Monotheismus gewandelt hatte, sollte als in jeder Hinsicht besser dargestellt werden als die traditionellen Religionen und Kulte, deren bisher anerkannte und verehrte Götter nun als „Götzen“ mit abscheulichen Eigenschaften ins allgemeine Bewußtsein eingehen sollten. Lange Zeit ging diese Strategie auf, heute verfängt sie zwar nicht mehr in Fachkreisen, aber leider immer noch in der ahnungslosen Öffentlichkeit. Der Religionswissenschaftler Jan Assmann[1] schreibt dazu:
„In der Tat findet sich im Alten Testament nicht nur Kritik an der eigenen Religion wie die Opferkritik der Propheten, sondern vor allem auch reichliche Polemik gegen die heidnische, vor allem kanaanäische Religion. Da geht es dann um Dinge wie Magie, Wahrsagerei, Totenbeschwörung, Tempelprostitution und vor allem Menschenopfer, insbesondere Kindesopfer. Hier zeigt sich deutlich, dass schon der altisraelitische Monotheismus ganz ähnliche Probleme hatte wie später das Christentum. Es sind die Probleme einer Religion, die sich als etwas Neues an die Stelle alter Traditionen setzt und sich ihnen gegenüber als ein Fortschritt legitimieren muss. Die Strategien der Begründung sind uns so selbstverständlich geworden, dass uns ihre polemischapologetische Tendenz nicht mehr bewusst ist. Selbstverständlich ist das Judentum ein Fortschritt gegenüber dem Heidentum. Wer wünschte sich Menschenopfer und Hexerei zurück? Auch damit aber bewegen wir uns im Horizont der polemischen bzw. apologetischen Innenperspektive des Monotheismus“.
Interessant, aber nicht überraschend ist die Sichtweise eines (zum Islam konvertierten) islamischen Autors. Klaus Habib Neven schreibt in seinem Buch „Das Christentum aus islamischer Sicht (2016):
Es war Satans Plan von Anbeginn der Zeit, die ganze Erde allmählich zu vereinen im Unglauben und Ungehorsam; eine Menschheit, die ihren Schöpfer ablehnt und stattdessen Lucifer anbetet. Er wurde in verschiedenen Formen auf der ganzen Welt als Sonnengott oder Feuergott verehrt. Und man brachte ihm blutige Menschenopfer dar! Menschenopfer sind Satanskult! Das Kreuz war ein Symbol der Sonnenanbeter Jahrhunderte bevor Jesus geboren wurde. Wie erwähnt findet man es in der Mitte des Zodiak, das den Tierkreis in seine vier Jahreszeiten teilt. Der Herrscher des Tierkreises ist wiederum die Sonne bzw. der Sonnengott. Das, was nun christliches Kreuz genannt wird, war ursprünglich bei den Kaldäern das mystische Tau, auf dem sie ihr Erstgeborenes dem Sonnengott opferten. Keine größere Schmähung hätte Satan Christus antun können, als ihn genau auf diesem Symbol der Satansanbetung zu kreuzigen! Aber laut Islam bewahrte Gott Jesus davor. Jesus wurde in Wirklichkeit nie gekreuzigt!
Die Torah fordert mehrfach (Ex 13,2. 12f; 22,28f; 34,19f; Num 3,1ff; 18,15; Dtn 15, 19) die Erstgeburt von Mensch und Tier als Gabe für JHWH. Die Gebote machen aber unmissverständlich klar, dass die ersten Söhne im Unterschied zu den Tieren nicht geopfert werden durften, sondern unbedingt durch ein Tieropfer ersetzt (ausgelöst) werden mussten (im Islam wird immer noch zur Geburt von Kindern geopfert). Wer dennoch Menschen opferte, wurde mit der Todesstrafe bedroht (Lev 20,2; Dtn 18,10 u.a.). Wenn Könige wie Ahas (2 Kön 16,3) und Manasse (2 Könige 21,6) weiterhin den alten Kulten folgten, verstießen sie gegen dieses Gebot und zogen den Zorn der Propheten auf sich. Menschenopfer galten ihnen als typisches Zeichen der Verehrung fremder Götter wie Moloch und Baal: „Doch der Baal fraß seit unserer Jugend alles, was unsere Väter erwarben, ihre Schafe und Rinder, ihre Söhne und Töchter." (Jer 3, 24)
„Sie brachten ihre Söhne und Töchter dar als Opfer für die Dämonen. Sie vergossen schuldloses Blut, das Blut ihrer Söhne und Töchter, die sie den Götzen Kanaans opferten." (Ps 106, 37ff). Der biblischen Geschichtsüberlieferung zufolge war das Opfer der ersten Söhne in Israels Umwelt üblich, das die deuteronomische Theologie ablehnte: „Da nahm er [der König der Moabiter] seinen erstgeborenen Sohn, der nach ihm König werden sollte, und brachte ihn auf der Mauer als Brandopfer dar." (2 Könige 3, 27) „Er lieferte sie den Gibeonitern aus, die sie auf dem Berg vor dem Angesicht des Herrn hinrichteten." (2 Sam 21, 9)
Jeremia bekämpfte die Opferung der Erstgeburt, die manche Jerusalemer offenbar von den zuvor dort lebenden Kanaanäern übernommen hatten, als Götzendienst und schweren Verstoß gegen Gottes Gebote: „Auch haben sie die Kulthöhe des Tofet im Tal Ben-Hinnom gebaut, um ihre Söhne und Töchter im Feuer zu verbrennen, was ich nie befohlen habe und was mir niemals in den Sinn gekommen ist." (Jer 7,31)
Was man also aus all den oben genannten Bibelstellen klar erkennen kann ist das Folgende: Gott selber hatte nie Menschenopfer befohlen! Auch Tieropfer wurden nicht benötigt, um Sünden zu vergeben. Es ist nirgendwo in der Bibel ersichtlich, dass die Menschen opferten, um ihre Sünden vergeben zu bekommen, sondern weil es eine Anordnung Gottes war. Wenn immer Menschenopfer stattfanden, folgten die Menschen nicht der monotheistischen Religion Abrahams, sondern dem Götzendienst. Und es war vor allem Baal, der solche Opfer forderte (Ende Zitate Neven).
Praktisch alle Vorurteile des alttestamentlichen Judentums gegenüber der altorientalischen Religion werden hier unkritisch konserviert und als Argumente ins Feld geführt - kein Wunder, hat doch der Islam als jüngste monotheistische Religionsvariante die gleichen Legitimationsprobleme wie Christentum und Judentum. Eine neue, ganz eigene Zutat ist allerdings die Gleichsetzung des christlichen Kreuzes mit dem „mythischen Tau“.
Einer, der sich schon früh nicht mehr von alttestamentlichen Schreckenszuschreibungen beeindrucken ließ, war der jüdisch-amerikanische Religionswissenschaftler und Archäologe Morris Jastrow. Nach dem Studium des Talmud und der semitischen Sprachen in Europa distanzierte er sich deutlich vom traditionellen Judentum. Jastrow schrieb[2]: „Weder in der babylonischen Literatur noch in künstlerischen Darstellungen wurden Spuren von Menschenopfern gefunden. Wenn dieser Ritus jemals bei den Babyloniern oder Assyrern praktiziert wurde, muss er in einer sehr frühen Periode stattgefunden haben - früher als alles, wovon wir bisher Kenntnis haben. Andererseits lässt sich eine Spur einer primitiven Form der Baumverehrung in der auf Siegelzylindern und Denkmälern so häufig anzutreffenden Darstellung merkwürdiger, teils menschlicher, teils tierischer Figuren erkennen, die vor einer Palme stehen“.
Befragt man eine künstliche Intelligenz wie ChatGPT zu diesem Thema, wird das Dilemma zwischen unkritischem Alttestamentglauben und wissenschaftlichen Erkenntnissen und Korrekturen überdeutlich - wenn man nur lange genug nachhakt:
Frage: Nenne mir Autoren, die behaupten, dass es bei den Sumerern Menschenopfer gegeben hätte.
Antwort: Es gibt verschiedene Autoren, die sich mit dem Thema der Sumerer und ihren Praktiken auseinandergesetzt haben und in diesem Zusammenhang auch von Menschenopfern sprechen. Ein Beispiel hierfür ist der amerikanische Archäologe und Altmesopotamien-Forscher Samuel Noah Kramer, der in seinem Werk "The Sumerians: Their History, Culture, and Character" auf Menschenopfer in der sumerischen Religion eingeht und dazu auch historische Quellen und archäologische Funde heranzieht. Ein weiterer Autor, der zu diesem Thema schreibt, ist der deutsche Assyriologe und Hochschullehrer Johannes Renger, der in seinem Buch "Sumer und Akkad: Geschichte, Gesellschaft, Kultur" ebenfalls auf die Praktiken der Sumerer in Bezug auf Menschenopfer eingeht. Es sei jedoch angemerkt, dass es in der Forschung auch unterschiedliche Meinungen und Interpretationen zu diesem Thema gibt.
Frage: Was schreibt Samuel Noah Kramer zu Menschenopfern bei den Sumerern?
Antwort: Samuel Noah Kramer beschreibt in seinem Buch "The Sumerians: Their History, Culture, and Character" aus dem Jahr 1963, dass es bei den Sumerern während ihrer frühen Geschichte Menschenopfer gab. Diese Praktiken waren jedoch nicht durchgängig und traten später nur noch selten auf. Kramer vermutet, dass diese Rituale in Zusammenhang mit religiösen Veränderungen oder politischen Ereignissen standen.
Frage: Welche konkreten Hinweise gibt Samuel Noah Kramer zu Menschenopfern bei den Sumerern?
Antwort: Samuel Noah Kramer beschreibt in seinem Buch "The Sumerians: Their History, Culture, and Character" einige konkrete Hinweise zu Menschenopfern bei den Sumerern. Er erwähnt, dass in einigen Texten von "Bluttrinken" durch die Götter die Rede ist, was möglicherweise ein Hinweis auf Menschenopfer sein könnte. Auch gibt es Berichte von Kriegsgefangenen, die als Opfer dargebracht wurden, um den Göttern Gunst zu erweisen. Allerdings betont Kramer auch, dass es schwierig ist, die genauen Rituale und Praktiken der Sumerer zu rekonstruieren, da es nur begrenzte schriftliche Aufzeichnungen und keine unmittelbaren Augenzeugen gibt.
Frage: In welchen sumerischen Texten wird von "Bluttrinken" der Götter geschrieben?
Antwort: In sumerischen Texten wird in verschiedenen Kontexten von "Bluttrinken" der Götter gesprochen. Ein bekanntes Beispiel ist das "Epos von Gilgamesch", in dem die Göttin Ischtar nach dem Tod ihres Geliebten Tammuz das Blut eines Bullen trinkt, um ihn wiederzubeleben. Ebenfalls im Kontext von Opferritualen wird von Bluttrinken gesprochen, etwa in den "Ritualtexten gegen Dämonen" oder in Hymnen auf den Kriegsgott Ninurta. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass das Bluttrinken der Götter metaphorisch zu verstehen ist und keine tatsächliche blutige Handlung beschreibt. (Ende Zitate ChatGPT)
Bei diesen weitergehenden Fragen bin ich nur exemplarisch den Aussagen zu Samuel Noah Kramer nachgegangen. Man sieht, wie sich die zunächst massiven Behauptungen bei einschränkender Nachfrage allmählich in Nebel und schließlich in Luft auflösen. Nebenbei bemerkt ist die Behauptung, dass Ischtar in der Dichtung „Gilgamesch“ den Tod von Tammuz zu beklagen hätte und deshalb Blut getrunken hätte, völlig aus der Luft gegriffen.
Wenn von „Baal“ die Rede ist, erschaudern die Gebildeten. Gilt dieser Gott doch als menschenfressendes Ungeheuer, dessen Verehrung durch die „Heiden“ deren Verderbtheit erschreckend deutlich macht. Zwar ist an den Vorwürfen nichts dran, aber die alttestamentliche Verunglimpfung feiert ihren Erfolg. Auch die Römer lernen von den Hebräern und greifen zu plumper Propaganda, um ihren Konkurrenten Karthago als moralisch minderwertig zu diskriminieren und damit indiskutabel zu machen. Die Geschichte von den Kinderopfern in Karthago wurde bis in unser Jahrhundert für wahr gehalten. Erst durch jüngste archäologische Untersuchungen wurde sie als perfide Lüge der Römer entlarvt. Die Archäologin und Wissenschaftsjournalistin Angelika Franz berichtet darüber am 03. 03. 2010 im Spiegel:
Kinderopfer in Karthago an Baal-Hammon? „Über den Feind erzählte man sich in Rom abscheuliche Dinge: So sollen die Karthager ihrem Gott Baal-Hammon regelmäßig Kinder geopfert haben. Eine Szene haben römische Geschichtsschreiber genau beschrieben: Im Jahr 310 vor Christus lag vor den Toren Karthagos das Heer des Agathokles von Syrakus und schnitt die Stadt von jeder Versorgung aus dem Hinterland ab. Das Wasser wurde knapp, in der Sommerhitze litten die Menschen unsägliche Qualen. Schließlich verkündeten die Priester des Baal-Hammon, wie die Stadt gerettet werden könne: Ihr Hauptgott, so waren sie überzeugt, gierte nach dem Blut der erstgeborenen Söhne der Elite. Zu lange schon hätten die Reichen der Stadt versucht, den Gott zu betrügen, indem sie an Stelle der eigenen Sprösslinge Sklavenkinder geopfert hätten. Oder hatten gar versucht, dem Gott Tier- statt Menschenfleisch unterzujubeln.
Die Misere also, so sagten die Priester, sei nun die Rache des Baal. Um ihn wieder zu besänftigen, trieben sie die männlichen Nachkommen zusammen, entzündeten zu den Füßen seiner Statue ein riesiges Feuer und legten die Kinder auf die leicht abschüssigen, ausgestreckten Arme des Götzenbildes. Nach und nach rollten die kleinen Kinder ins lodernde Feuer.
So zumindest ist es nachzulesen bei den antiken Geschichtsschreibern Diodorus Siculus und Plutarch. Und so führte es auch 1862 Gustav Flaubert in seinem Roman "Salammbô" in ekelerregender Detailgenauigkeit aus: "Dann ward die Glut im Innern dunkler, und man erkannte brennendes Fleisch. Manche glaubten sogar Haare, Glieder und ganze Körper wahrzunehmen. (...) Man hörte das Schreien der Mütter und das Prasseln des Fetts, das auf die Kohlen herabtropfte..."
Nur hat die Sache einen Haken: Flaubert schrieb für ein sensationslüsternes französisches Publikum. Und die beiden antiken Geschichtsschreiber wurden von römischen Herrschern für ihre Dienste bezahlt. So haben Archäologen seit geraumer Zeit berechtigte Zweifel an der Verlässlichkeit dieser literarischen Schilderungen. Waren die abstoßenden Kindesopfer also nur römische Propaganda? Jüngste Belege dafür, dass die Karthager unschuldig waren, hat nun Jeffrey Schwartz von der University of Pittsburgh vorgelegt. Der Anthropologe untersuchte die Knochen aus 348 Urnen aus einem Kinderfriedhof der Stadt.
Um diesen Kinderfriedhof, Tophet genannt, ranken sich seit den ersten wissenschaftlichen Untersuchungen in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts die finstersten Gerüchte. Hier ruhen nur die Knochen von sehr jungen Kindern. Ältere Kinder sowie die Erwachsenen wurden auf den regulären Friedhöfen der Stadt beigesetzt. Es lag also nahe, in den hier Bestatteten die Opfer des grausamen Baal-Hammon zu vermuten - die erstgeborenen Söhne der Stadt, die für den Gott in den Flammen sterben mussten.
Schwartz fand heraus, dass zumindest sehr viele von ihnen gar nicht hätten geopfert werden können - weil sie schon ihre Geburt nicht überlebt hatten. Schwartz konnte an den Knochen keinerlei Spuren von Gewalteinwirkung feststellen. "Ich habe sehr sorgfältig nach Schnittspuren gesucht, weil es in einigen Berichten heißt, den Kindern seien die Kehlen durchgeschnitten worden, bevor man sie ins Feuer warf", erzählt der Forscher. "Natürlich könnten sie auch zuvor betäubt worden sein - das hätte an den Knochen keine Spuren hinterlassen." Von 70 Skeletten waren die Beckenknochen so weit erhalten, dass Schwartz an ihnen das Geschlecht der Toten bestimmen konnte. Und hier widersprachen die Ergebnisse eindeutig den Schilderungen des Opferritus: Mindestens 38 der Kinder aus dem Tophet waren nämlich Mädchen. Nur bei 26 der Knochen konnte Schwartz eindeutig auf Jungen schließen, bei den restlichen sechs Kindern war das Ergebnis nicht eindeutig.
Die nächste Überraschung war die Bestimmung des Alters. Dazu nahm Schwartz die kleinen Schädelknochen, Sitz- und Schambeine sowie die Zähne unter die Lupe. Fast alle Kinder starben, ohne ihren ersten Geburtstag erlebt zu haben. Der häufigste Todeszeitpunkt lag zwischen den zweiten und dem fünften Lebensmonat. Und etwa 20 Prozent aller Kinder hatten gar nie das Licht der Sonne gesehen - sie waren Totgeburten.
Um sicherzugehen, zog Schwartz weitere Kollegen hinzu. Er wählte Zähne von 50 Kindern aus, deren Todeszeitpunkt er kurz vor oder unmittelbar nach der Geburt vermutete, und schickte sie an Roberto Macchiarelli vom Muséum National d'Histoire Naturelle in Paris und Luca Bondioli vom Museo Nazionale Preistorico Etnografico in Rom. Er bat die Kollegen, die Zähne auf ihre neonatale Linie zu untersuchen. Diese feine Linie bildet sich im Zahnschmelz, wenn dessen Produktion bei der Geburt und für die ersten Tage danach vorübergehend eingestellt wird. Ist sie im Zahnschmelz zu sehen, hat das Kind diese Zeit überlebt. Fehlt sie, ist es während oder kurz nach der Geburt gestorben. Mit dieser sehr genauen Methode der Bestimmung des Todeszeitpunktes konnten die Forscher 26 Kinder ausmachen, die tatsächlich tot geboren worden waren - und damit auch ganz bestimmt nicht dem Baal-Hammon als Opfer dargebracht werden konnten“. (Ende Zitate von Angelika Franz).
Sehr ähnlich, nur in anderen Worten, berichet Dr. Heike Talkenberger auf Wissenschaft.de am 08.05.2010:
„Im 4. bis 2. Jahrhundert v. Chr. war die reiche nordafrikanische Stadt Karthago Roms ärgste Konkurrentin, bis den Römern 146 v. Chr. im dritten Punischen Krieg ihre Zerstörung gelang. Die römischen Geschichtsschreiber hatten Grausiges über den Feind zu berichten: Die Karthager hätten, so liest man bei Diodorus oder Plutarch, ihrem Gott Baal-Hammon Kinderopfer dargebracht. Anlässlich einer Belagerung im Jahr 310 v. Chr. seien vor allem männliche Nachkommen der Elite in großer Zahl geopfert und auf dem Kinderfriedhof Tophet bestattet worden.
Jeffrey Schwartz von der University of Pittsburgh hat nun Knochen aus 348 Urnen des Kinderfriedhofs untersucht und kommt zu interessanten Ergebnissen: Er konnte an den Knochen keinerlei Spuren von Gewaltanwendungen entdecken, dazu brachte eine vergleichende Analyse von 70 Skeletten ans Licht, dass 38 von 70 Verstorbenen nicht etwa Jungen, sondern Mädchen waren. Schwartz fand außerdem heraus, dass sehr viele Kinder bereits zwischen dem zweiten und dem fünften Lebensmonat verstorben waren, Hinweis auf die in der Antike übliche hohe Kindersterblichkeit. Am meisten aber spricht gegen die Kinderopfer-These der Befund, dass 20 Prozent der Kinder Totgeburten waren. So diente Tophet wohl lediglich der Bestattung von Kindern, die noch nicht in die Gemeinschaft hatten aufgenommen werden können, und die Mär vom Kinderopfer ist nichts als römische Propaganda“. (Ende Zitate von Heike Talkenberger).
Definition des Menschenopfers. Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet gibt ausführlich Auskunft darüber, was unter einem „Menschenopfer“ zu verstehen ist. Ich gebe hier den vielbeachteten Artikel von Michaela Brauks (2016) wieder:
1. Einführung
1.1. Definition
Der Begriff „Menschenopfer“ wird im Blick auf den Mittelmeerraum in einem weiteren und in einem engeren Sinne verwendet. Im engeren Sinne versteht man unter einem Menschenopfer ein regelmäßig oder bei besonderen Gelegenheiten, z.B. in einer Notzeit, vollzogenes Opferritual („sacrificium“), bei dem ein Opfergeber einer Gottheit als Opfergabe („victima“) einen Menschen darbringt, der dabei als Opfer rituell getötet wird (vgl. G. Schwartz, 11-13; Cancik-Lindemann 1999, 1254).
In einem weiteren Sinne versteht man unter „Menschenopfer“ verschiedene Formen ritueller Tötungen (Ritualmord), wie z.B.:
a) Bauopfer (ein Mensch wurde bei der Grundsteinlegung eines Gebäudes vielleicht getötet und unter dem Grundstein begraben);
b) Gefolgeopfer (Menschen aus dem Umfeld eines Verstorbenen wurden getötet und mit ihm begraben oder sogar lebendig mit ihm begraben);
c) Gefangenenopfer (rituelle Tötung von Feinden);
d) Toten- und Heldenopfer (rituelle Tötungen für Tote oder getötete Helden; häufig als Racheakt);
e) Fruchtbarkeitsritual (Tötung der Erstgeborenen; Erstlingsopfer);
g) Kannibalismus und Nekrophagie, sofern sie zu einem Ritual gehören;
h) Selbstopfer / Märtyrertod.
1.2. Quellen
Während das Thema Menschenopfer in Griechenland literarisch häufig belegt ist (Scheid, 1256f.; Henrich; Hughes), findet es sich in Ägypten, Mesopotamien und der Levante nur selten. Sehr umstritten bleibt in der Forschung, wie verbreitet die Durchführung von Menschenopfern in den genannten Kulturen war.
1.2.1. Literarische Belege.
Die Schwierigkeit vieler literarischer Belege besteht darin, dass es sich um Berichte philosophisch oder historiographisch interessierter klassischer Autoren handelt, die über Riten oft fremder Völker oder zurückliegender Epochen berichten. Die mitunter ausladenden Beschreibungen verfolgen eine bestimmte Intention der Kulturbeschreibung und sind häufig als Polemiken zu bewerten (Roig Lanzillotta 2007; Bauks 2010). Daher bleibt unklar, ob es sich um die Beschreibung realer Opferpraxis oder aber lediglich um kulturelle Zuschreibungen handelt. Insofern ist man für die Auswertung des Befunds, ob und in welchem Kontext Menschenopfer tatsächlich durchgeführt wurden, zusätzlich auf archäologische Belege (inklusive Ikonographie und Epigraphik) angewiesen, um die literarischen und narrativ eingebetteten Überlieferungen historisch und inhaltlich besser zuordnen zu können.
1.2.2. Archäologische Belege.
Sie stammen vor allem aus Grabkontexten. Belegbar sind auch Bauopfer bzw. Gründungsbeigaben. Ikonographische Belege gehören zum Teil in den Kontext der jeweiligen kulturell bedingten Herrscherikonographie. Aus dem Kerngebiet Israel-Judas sind jedoch keine archäologischen Belege vorhanden.
1.2.3. Epigraphische Belege.
Inschriften aus Karthago und Susse, (4.-2. Jh. v.Chr.) bieten eindeutige Belege für Menschenopfer bzw. Ersatzrituale für den phönizisch-punischen Raum der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends (AbouSamra; Xella; Roschinski; Bauks; → Moloch). Zu nennen sind hier auch die punischen Weihinschriften aus el-Hofra bei Constantine [= Cirte, Algerien] des 3.-1. Jh.s v. Chr. adressiert an Baal Hamon und Tanit und in römischer Zeit für Saturn / Kronos und Caelestis aus Calama/Guelme und Ngaus (lat.) (dazu Abou Samra; Roschinski; Xella; Donner / Röllig, KAI; vgl. Bauks 2010, 29-40). Forschungsgeschichtlich einschlägig wirken Arbeiten wie die von Green (1975), Aldhouse-Green (2003) und auch Bremmer (2007), die eine große Anzahl von Beispielen für Ritualmord und Menschenopfer in verschiedenen Kulturen katalogisieren, ohne aber beide Typen weiter zu differenzieren (anders Burkert [1972, 9] zum anthropologischen Verhalten des Jagd-Opfer-Toten-Rituals und der Opfertötung als „Grunderlebnis des ‚Heiligen’“; s. auch Hughes 1991, 1ff.).
1.3.1. Menschen.
Die Opfergabe besteht nach vielen Texten aus Kindern oder Jugendlichen (Königssöhnen) bzw. – verstärkt im griechischen Kulturraum – aus Jungfrauen, weshalb die Bezeichnung „Kinderopfer“ verbreitet ist.
1.3.2. Ritual.
Über die Art und Weise, wie Menschenopfer dargebracht wurden, machen die Quellen sehr unterschiedliche Angaben: Im Alten Testament werden sie als Ganz- bzw. Brandopfer ( עֹלהָ ‘olāh; Holocaust) beschrieben (Gen 22; Ri 11; 2Kön 3,27). Ob es sich bei dem Begriff מֹלֶך molækh bzw. מלך molkh um einen semitischen Terminus für einen bestimmten Opferritus handelt (Eißfeldt; Müller; Noort; Bauks) oder den Namen bzw. die Bezeichnung der Gottheit, der man opferte (Heider; Day), ist umstritten. Im jüngeren punischen Kontext begegnen Menschenopfer archäologisch und literarisch als Brandopfer (Xella 2009; Bonnet 2010, 165f.) anlässlich eines Gelübdes (auch in Notlage), wobei der Vorgang durch eine Stele erinnert wird (Abou Samra, 257-269; Bauks 2010, 24-31). Dem Feuer scheint eine besondere Bedeutung für die Transformation des Opfers zuzukommen.
In griechischen Texten begegnet das Opfer als Schlachtopfer (thúein, spházein u.a.). Von Iphigenie kann ausgesagt werden, dass sie wie eine Ziege (Aischylos, Agamemnon 232) oder ein Kalb (Euripides, Iphigenie bei den Taurern, 359) geopfert wird. Die „olympische Opferform“ (thusía) umfasst das Schlachten und Verbrennen von ausgewählten Knochen, Gallenblase, Fett und einigen Fleischstücken für einen Gott, während das übrige Tier von der Kultgemeinde im Rahmen der großen Feste verspeist wird. Das zieht im Fall eines Menschenopfers das Problem der Anthropophagie nach sich (vgl. Erzählstoffe zu Tantalos-Pelops; Thyestes; dazu Burkert, 114-123). Heldenopfer indes wurden nicht verzehrt, sondern deponiert oder gänzlich verbrannt (holókaustos) (Hughes, 4f.; vgl.Burkert, 10-14). Verbrennung ist auch bei Totenopfern und Opfern für chthonische Götter der Regelfall. Bei Gelübdeopfern (tómia; hórkion ) wird das getötete Opfergut deponiert (Hughes, 4-5).
In Mesopotamien fehlen in den sonst sehr ausführlichen Texten zur Opferpraxis sowohl Hinweise auf die Opferterminologie als auch Ausführungsberichte zum Menschenopfer. Stattdessen lassen sich Beispiele für Ritualmorde (wie z.B. Gefolgebestattungen; s. archäologische Befunde; zur Kategorisierung Hughes, 8) oder Stellvertretungs- und Substitutionsriten (wie Ersatzkönigtum) oder Sündenbock- bzw. Pharmakosriten als Eliminationsriten beibringen (Pongratz-Leisten 2007, 9.32; Hughes, 11f. 140-165), die aber keine Menschenopfer im engeren Sinne darstellen.
2.2. Mesopotamien, Anatolien und Syrien
Auch in Mesopotamien und Südostanatolien sind Gefangenenopfer und Gefolgebestattungen belegt. Der berühmteste Fall für eine Gefolgebestattung findet sich in den von Sir Leonard Woolley 1934 publizierten sechzehn prädynastischen „Königs“-Gräbern aus Ur (Tell el-Muqajjar) bis in die Ur IIIAPeriode (2600-2450 v. Chr.) im Mausoleum von König Schulgi und Amar-Sin. Die Grabarchitektur weist jeweils Varianten auf, aber in allen steinernen Grabkammern mit Schachtgräbern findet sich neben dem Leichnam eine Reihe weiterer menschlicher Überreste von Gefolgsleuten und Familienmitgliedern des Grabherrn (bzw. in zwei Fällen der weiblichen Leichname), die mit ihm zusammen bestattet wurden (vgl. auch Dietrich, 266-281). Andere deuten den Befund so, dass die übrigen Menschen bereits vor dem König gestorben waren und später mit ihm zusammen zweitbestattet wurden (Charvát 2002; Sürenhagen 2002). Dagegen scheint die Anordnung der Skelette in der Grube als Gefolge mit Soldaten, Bediensteten etc., zumal ausgestattet mit Objekten wie Schmuck und Keramik, für ein Kontinuität stiftendes Totenbankett zu sprechen (Porter 2012, 207f.).
Verletzungen an einigen Schädeln wiesen zudem auf Tötung durch eine Spitzhacke hin und somit auf die „Opferung“ des Gefolges mit der Bestattung des Grabherrn (Baadsgaard / Monge / Zettler, 137-144). Ein ähnlicher Befund könnte in Kisch vorliegen (Green, 53f., vgl. Recht, 171). Weitere Belege stammen aus Syrien wie z.B. von Tell Umm el-Marra (ca. 2300 v. Chr.), wo man Gräber mit Welpen- / Hunde-, Pferde- (kunga) und Menschenknochen ohne Brandspuren neben weiteren Objekten in kultisch anmutenden Installationen fand (Schwartz 2012, 15-23; Porter, 201f.; Recht, 171 mit Hinweis auf eine vergleichbare hurritische Installation in Tell Mozan ). Andere interpretieren das Ensemble als sukzessiv gewachsene Elite-Gräber mit Toten- bzw. Ahnenkultfunktion, in denen die afrikanischen Esel (kunga) in ihrer Eigenschaft als königliche Tiere Substitutionsopfer darstellen (Weber 2012, 170ff.). Für die Grabfunde aus Tell Brak / Nagar, Nuzi, Aslantepe (Porter), Tepe Gawra und Chagar Bazar ist die Deutung als Menschenopfer sehr umstritten, da zwar ein gewaltsamer Tod nachzuweisen ist, der sakrifizielle Kontext aber fehlt (Recht, 172f., gegen Green, 59-80). Misshandlungen und Opfer von Gefangenen sind ein gängiges Motiv, das z.B. auf Siegelabdrücken der Uruk-Zeit begegnet (Edzard 1997, 60; vgl. Green, 27-43, der von Menschenopferdarstellungen ausgeht), ohne dass ein deutlicher Opferkontext vorausgesetzt werden könnte.
Die Bestattung von toten Kindern als Bau- bzw. Gründungsopfer ist ein verbreiteter Ritus, doch bleibt sehr umstritten, ob es sich nicht um natürlich gestorbene Kinder handelt (Meyer, 225f.), die als „Opfergut“ dienten, ohne unter die „Menschenopfer“ zu fallen (anders Moses 2012, 72f. am Beispiel der neolithischen Funde von Çatalhöyuk mit Ziel der Fruchtbarkeit im Rahmen der Dynastiegründung).
Die meisten der genannten Belege stammen aus dem Grabkontext. Anders als z.B. im aztekischen Raum lassen sich keine ikonographischen Hinweise auf Menschenopferrituale beibringen. Überhaupt fehlen Hinweise auf Menschenopfer als einer öffentlich begangenen Ritualhandlung. Die Angewiesenheit auf den Grabkontext macht es notwendig, nicht nur die mitbestatteten Objekte zu analysieren, sondern auch die genaue Position, den Zustand und die Bezogenheit auf andere Skelette bzw. Knochen sowie die Unterscheidung in Erst- und Zweitbestattung zu berücksichtigen, um Bestattungspraktiken von Opferpraktiken differenzieren zu können (Porter 2012, 192ff.).
3.1. Außerbiblische Belege
Der sumerische Text Gilgamesch in der Unterwelt (1. Hälfte 2. Jt. mit älteren Wurzeln) enthält in der aus Nippur erhaltenen Fassung eine Liste derer, die den toten Gilgamesch in sein Grab begleiteten, darunter seine Frauen, seine Kinder, sein Musiker, Entertainer und Friseur. Die Beschreibung erinnert an die Gefolgebestattungen wie sie in den Königsgräbern von Ur belegt sind, ohne dass von einem Menschenopfer im engeren Sinn auszugehen ist (vgl. Recht, 7; Green, 86f.).
Ein weiterer Beleg für Gefolgebestattung stammt aus der Ur III-Zeit aus Girsu / Telloh, dem Grab der Königin Ninenise, Frau des Urtarsirsira (Recht). Weitere Belege wie z.B. ein Bittgebet aus Ugarit (KTU 1.119, 26’-36’), das in einen Opferkalender Baals eingefasst ist, sind wegen der Textqualität uneindeutig, da nicht sicher ist, ob dkr „männliches Wesen“ oder bkr „erstgeborener Mensch“ zu lesen ist (Bauks 2010, 39f.).
In dem hethitischen Brief KBo. 12,62, Zeile 13’-15’ wird missbilligend auf ein Menschenopfer Bezug genommen (Wilhelm 1976-80, 61). Besser belegt ist hingegen ein Ersatzkönig (šar pūḫi )-Ritual, das erstmals in der altbabylonischen Chronik zur Regierungszeit des Erra-Imittī aus Isin begegnet (19. Jh. v. Chr.; Glassner 1993, 219f., no. 38-39). Der Text belegt, dass anstelle des Königs sein Gärtner namens Enlil-bāni installiert wurde, der, als der König plötzlich starb, in seiner Eigenschaft als Ersatzkönig an seiner Stelle weiterregierte (Green, 88-91; Heller, 413-420 zu Alexander d. Gr.). Weitere Beispiele sind hethitischer (Kümmel 1967) oder neuassyrischer Herkunft, z. Zt. von Asarhaddon und Assurbanipal im 7. Jh. (s. Maul 2000, 10-12). Eine Reihe assyrischer Briefe geben Aufschluss über die Umstände des Ersatzkönigtums: Aufgrund bestimmter Sternenkonstellationen wird für einen bestimmten Zeitraum ein Ersatzkönig gewählt, der herrschaftlich ausstaffiert und nach seinem Tode königlich bestattet wird und dessen Tod dazu dient, den amtierenden König vor den angezeigten Übeln zu retten (Kümmel 1967, 169- 186; vgl. auch Diodor XVII, 116,4). Der Ritus changiert zwischen Ritualmord und Eliminationsritus und ist darin von Menschenopfern zu unterscheiden.
3.2. Alttestamentliche Belege
Weiterhin ist 1Kön 16,34 (vgl. Jos 6,26) zu nennen. Der Vers wurde als Bauopfer zur Neugründung bzw. zum Ausbau von Jericho verstanden, bei dem Hiel aus Bethel seine erst- und letztgeborenen Söhne Abiram und Segub opfert (Stavrakopoulou, 186f., weist darauf hin, dass die Namen der Söhne – ähnlich wie der Name Abraham „[mein] Vater ist erhaben“ – sprechend sind und Erhabenheit signalisieren). Kritisch äußert sich zu alttestamentlichen Bauopfern Fritz (1996, 161, mit Rekurs auf Kaiser 1984; vgl. Noort, 110ff.).
Ez 20,25-26 unterstreicht zwar, dass das Kinderopfer (gemeint ist hier ein Erstlingsopfer; vgl. Mi 6,7) ein nicht mehr JHWH-gemäßer und illegitimer Ritus ist, lässt aber auch erkennen, dass er in der Vergangenheit JHWH – und nicht etwa fremden Göttern – gegolten hat. Weiterhin wird in Ez 16,20-21 und Ez 23,37-39 auf Kinderopfer angespielt, diesmal aber im Kontext eines zu verabscheuenden Fremdgötterkults. Offensichtlich nutzen auch biblische Texte das Potenzial des Menschenopfermotivs, um in religiöser und ethischer Hinsicht kulturbedingte Differenzierungen zu behaupten bzw. einzuführen (Stavrakopoulou, 187-189). (Ende Zitate aus Wibilex).
Da es sich bei den „Menschenopfern“ in Sumer in sämtlichen Fällen nicht um Opfer im engeren Sinne, sondern um Gefolgschaftsbestattungen handelt, die in allen frühen Kulturen der Welt nicht regelmäßig, aber in Einzelfällen nachgewiesen werden konnten, sollten wir Mesopotamien, also die Kulturen der Sumerer, Akkader, Babylonier und Assyrer aus den „Verdachtsfällen“ ritueller Menschenopferkulte aussondern. Ob es Gefolgschaftsbestattungen tatsächlich gab und in wieweit sie unter Zwang oder freiwillig durchgeführt wurden, wird heute noch diskutiert, und diese Diskussion wird im Weiteren zum Verständnis der Problematik schlaglichtartig aufgezeigt.
Auf mögliche Menschenopfer in Karthago möchte ich nicht näher eingehen, da dies den geographischen Rahmen sprengen würde, den ich mir gesetzt habe. Nur so viel sei abschließend gesagt: Abgesehen von den erwähnten - allerdings fiktiven – Kinderopfern auf dem Tophet-Friedhof sind wohl einige Inschriften gefunden worden, die sehr schwer zu verstehen sind und die man so lesen könnte, dass man daraus auf Menschenopfer schließen könnte - nach anderen Lesarten wiederum nicht. Es bleiben also erhebliche Zweifel an der Rolle Karthagos als „Menschenopferkultur“, aber in Einzelfällen kann man sie nicht völlig ausschließen. Soweit der Stand der Dinge.
Franz Böhl[3] stellt kritische Überlegungen an zu den Befunden in den “Royal Tombs“ in Ur (Woolley):
Nun muß auch, was die ältesten Gruftanlagen betrifft, ein Unterschied gemacht werden. Die Zahl der Gräber ist gross; aber nur in zwei eng zusammenhängenden Grabgewölben der untersten Schicht fand man die deutlichen Spuren zahlreicher Menschenopfer. Selbst im Grabe des Fürsten Mes-kalam-dug fand sich zwar prächtigster Goldschmuck, aber keine Spur getöteter Menschen. Letztere fanden sich während der Kampagne 1927/28 in grosser Zahl lediglich in den beiden aussergewöhnlich grossen und unmittelbar nebeneinander, wenn auch auf etwas verschiedenem Niveau liegenden Gruftgewölben… Schon hieraus folgt zugleich die Unwahrscheinlichkeit der landläufigen Erklärung. Das einem König Harem und Hofstaat ins Grab und ins Jenseits mitgegeben werden, hat Analogien, wenngleich nicht im mesopotamischen Kulturkreis. Das dasselbe von der Königin gelte, ist trotz der hohen Stellung der Frau und Fürstin bei den Sumerern kaum anzunehmen. Sollte man sie sich als Witwe denken? Oder als selbständige Fürstin ? Denn dass es sich bei den Gräbern PG/789 und 800 um ein nacheinander verstorbenes Ehepaar handeln sollte, erscheint (selbst bei Annahme eines männlichen Begräbnisses im ersteren) schon durch die Verschiedenheit der Niveaulage ausgeschlossen.
Über die Vorstellungen der Sumerer vom Zustand nach dem Tode wissen wir wenig. Das man das Leben im Jenseits als direkte Fortsetzung des diesseitigen gedacht hatte, so dass der Fürst seinen Hofstaat, Luxus, Dienerschaft im Totenreich nicht entbehren kann, hat keinen Halt an literarischen Quellen oder sonstigem archäologischem Befund. Selbst von Survivals oder Ersatzzauber nach Art der ägyptischen Uschebtis findet sich hier keine Spur.
Noch unwahrscheinlicher ist die Auffassung als Opfer im engeren Sinn, zu Ehren des vergotteten Königs. Dann hätte man die Menschen und Tiere auf einem Altar geschlachtet und nicht in der Haltung und mit den Attributen des täglichen Lebens. Blut spielt im babylonischen Opfer überhaupt eine geringe Rolle. Die für Menschenopfer angeführten Stellen — hauptsächlich Fluchformeln neuassyrischer Kontrakte — gehören in den nördlich-semitischen Kulturkreis, ebenso wie auch die Spuren von Erstgeburtsopfern. Wenn Assurbanipal erklärt, er habe den Rest der Überlebenden von Babylon als Totenopfer für seinen ermordeten Großvater Sanherib niedergemetzelt, so ist das bildlich gemeint. Der Ausdruck kispu bedeutet sonst stets das vegetative Opfer. Woolleys Argument, nur bei der Hauptperson, Sub-ad selbst, stünden die Schalen und Becher des Mahles, so dass nur mit ichrem Weiterleben gerechnet sei, findet nach unserer Hypothese bessere Erklärung: es ist das Hochzeitsmahl des Gottes oder seines Stellvertreters, welches in diesem Fall zugleich das Totenmahl war.
Das Band lag aufgefaltet; kein Schädel wurde gefunden. Auf Grund dieser Tatsachen hat schon S. Smith die Vermutung ausgesprochen, dass es sich hier nicht um das Begräbnis einer regierenden Königin, sondern einer „Gottesbraut“ gehandelt habe. Es handelt sich um die Hochzeitsfeier des unsichtbaren Gottes mit einer menschlichen Priesterin oder Hierodule und um deren Folgen: die dramatische Darstellung des [altgriechischer Ausdruck], welcher für die Braut und ihr Gefolge die höchste Ehre, aber zugleich Tod und Bestattung bedeutet.
Bekannt sind von den frühesten bis zu den spätesten Zeiten literarische Anspielungen und Erwähnungen dieser Götterhochzeiten, sowie des Raumes, in welchem sie stattfanden. Selbst Herodot wußte ja noch, dass sich in der obersten Kapelle des Tempelturms von Babylon ein großes und wohl zubereitetes Ruhebett, sowie ein goldener Tisch befanden, und daß der Gott — selbst unsichtbar — hier zu bestimmten Zeiten mit einer erkorenen Jungfrau den sakralen Hochzeitsritus beging. Dies „Haus des Ruhebetts“ wird in der keilschriftlichen Beschreibung des Marduktempels aus der Seleukidenzeit erwähnt; es muß der Ort sein, wohin der Gott am letzten Tag des Neujahrsfestes „zur Brautschaft eilt“. Ein entsprechendes Gemach und Zeremonien sind für den Nebotempel Ezida bezeugt.
Der Gedankenkreis scheint uralt. Aus der neusumerischen Periode sind am bekanntesten die Erwähnungen der sakralen Hochzeit des Gottes Ningirsu mit der Himmelstochter Ba'u in der Zylinderinschrift B des Gudea. Anschaulich wird hier beschrieben, wie der Krieger Ningirsu gleich einem Wirbelwind in seinen Tempel einzieht, und wie Ba'u gleich der aufgehenden Sonne neben ihn an sein Lager tritt, und wie die Vereinigung der beiden gleich dem Tigris, wenn sein Wasser hoch ist, an Lagas% Überfluß schenkt. Im folgenden werden dann die Personen namentlich aufgezählt, welche Gudea bei dieser Gelegenheit „bei Ningirsu unter seinen Befehlen Platz nehmen“ läßt: Krieger und hohe Beamte, der Wagenlenker und der Eselshirt mit dem heiligen Wagen, Schäfer, Musiker und Sänger, ferner die sieben Hierodulen.
Eine weitere Beschreibung der Götterhochzeit findet sich in einer Neujahrsliturgie aus der Zeit des Idin-Dagan von Isin, welche Witzel soeben neu bearbeitet hat. Freilich spielen diese Texte in der Götterwelt, und wir vernehmen nichts über die kultische Nachbildung. Ein Punkt aber ist für unseren Zweck bemerkenswert: die Stätte, wo das Throngemach mit dem Ruhebett für den „König“ (Dagal-usumgalanna d. i. Tammuz) und die „Herrin“ Innini errichtet wird, ist nicht der Himmel oder ein den Himmel abbildendes Brautgemach auf der Spitze des Tempelturms, sondern die Unterwelt, der „Kerker des Landes“. Die brautliche Göttin wird gepriesen als der Venusstern, der in der Unterwelt zur Ruhe geht.
So löst sich vom Standpunkt des astralen Kreislaufs der scheinbar schroffe Widerspruch zwischen Hochzeit und Tod: der Gegensatz zwischen der Freudenfeier auf dem „Berge“, dem Brautgemach auf luftiger Höhe einerseits und dem Schrecken und Tod im tiefen Grabgewölbe andrerseits, um welches herum ein Friedhof angelegt ward. Derselbe Tempel, in welchem nach Herodot die Hochzeit des Gottes gefeiert wurde, erscheint nach anderen (Ktesias, Aelian) als das „Grab des Bel“. Mit Recht wies S. Smith (a. a. O., p. 149 ff.) in eingehender Untersuchung auf die doppelte Bedeutung des Ausdrucks gigunu. Es ist seiner ursprünglichen Bedeutung nach das „dunkle“ oder „nächtliche“ Gemach (geg-unu), welches man — wo es in Verbindung mit dem Tempelturm genannt wird — geradezu mit „Grabmal“ oder „Göttergrab“ zu übersetzen pflegt. Vor allem an Stellen, die das gigunu im Sonnentempel von Sippar erwähnen, erscheint es wie eine Laube auf der luftigen Höhe des Turmes, wahrscheinlich aus vergoldetem Zedernholz erbaut, in welche die Götterprozessionen mit Freude und Jubel einziehen: das Gemach der Braut des Sonnengottes, welches Hammurabi, wie er sich in der Einleitung zur Gesetzessammlung (H, 28) rühmt, mit Grün bekleidet hat. Doch an anderen Stellen erscheinen diese „dunklen Gemächer“ der ursprünglichen Bedeutung gemäß als Grabstätten, welche in der Nähe des Flusses unter den Fundamenten großer Gebäude angelegt waren. Aus einer Bauinschrift Sanheribs aus Nineve kann man erschließen, dass zu einem solchen gigunu noch weitere Gräber {kimalj.f}e) gehörten, welche gelegentlich bei Überschwemmungen des Flusses zerstört und bloßgelegt wurden. Wir müssen somit im Sinn des Kreislaufgedankens zwei sakrale Gemächer unterscheiden, die nur gelegentlich durch dasselbe Wort angedeutet wurden. Hochzeit entspricht Tod; dem Brautgemach auf luftiger Hohe des Turmes entspricht das Totengemach in der Tiefe eines unterirdischen Gewölbes eben auserhalb der Temenosmauer.
In der Inschrift Zyl.B, die wir soeben wie einen Kommentar zu den Funden in den drei Gräbern aus Ur benutzten, erwähnt Gudea das Beilager des Gottes zweimal: erst beim festlichen Einzug in das Heiligtum, und dann am Schluß im Haus der Ruhe, wo das Wasser strömt. Dasselbe wird, mutatis mutandis, auch vom Mondtempel in Ur gelten. Auch der Mondgott — „Frucht, die sich selber erzeugt“, der aber als Neumond Lebenskraft braucht, um wieder zum Vollmond zu werden — ist nicht ausschließlich eine freundliche Gottheit. Der göttliche Samen beim ispbc, yapioc; ist das Symbol der jährlichen Überschwemmung: des Wasserschwalls, welcher die brautliche Erde einerseits zwar befruchtet, der jedoch das Kulturland zugleich mit Tod und Verderben bedroht. Die Frau, welche in den Armen des Gottes geruht hat, darf mit ihrem Gefolge nicht am Leben bleiben. Mit Frohlocken zieht sie, gleich der Göttin Ba'u, in den Tempel ein, und ihr Tod bedeutet (vielleicht im Sinne der Stellvertretung) die Befruchtung des Ackerlandes. Hier läßt sich zur weiteren Illustration das Ritual des babylonischen Neujahrsfestes vergleichen, dessen Verständnis vor allem Zimmern erschlossen hat. Im großen Mardukfest, wie es seit Hammurabi gefeiert wurde, sind die lokalen Götterfeste aus alter Zeit, vor allem auch die aus dem Kreis der Tammuz-Mysterien, zusammengeflossen. In einer 1928 auf holländisch erschienenen Studie über „Neujahrsfest und Königstag in Babylon und in Israel“ versuchten wir nachzuweisen, daß hier drei Feiern verbunden wurden : 1. Marduks Leiden und Erlösung, 2. sein Sieg und Thronbesteigung und 3. das Hochzeitsfest. Hiervon dauerten die beiden ersten Feiern je drei Tage, die letzte einen Tag, das Ganze also eine Woche. Was in den fünf Tagen geschah, welche dieser Festwoche vorhergingen, trug vorbereitenden Charakter. Nun ist auffallend, das weder die erste noch die dritte Feier (also weder das Leidens- noch das Hochzeitsritual) im großen Textbuch des Neujahrsfestes Enuma elisch berücksichtigt sind. Letzteres steht mit dem Leidensritual geradezu im Widerspruch. Während hier (KAR 143 und 219) der im „Berge“ eingeschlossene Marduk durch Nebo und die übrigen Götter befreit wird, ist nach dem Epos umgekehrt Marduk der Erlöser der übrigen Götter aus der Gewalt der Chaosmächte. Diese Erlösung erscheint als das Thema der zweiten Feier: der Prozession zum bit akitu, der pantomimischen Darstellung des Kampfes und Sieges, der Thronbesteigung und Schicksalsbestimmung.
Beim israelitischen Thronbesteigungsfest, wie Mowinckel dies scharfsinnig aus alttestamentlichen Psalmen und Liedern abgeleitet hat, sind Ritual und Gedankenkreis gleichfalls auf diese Punkte beschränkt; an die Stelle der Schicksalsbestimmung trat hier die Bundeserneuerung. Das Leidensritual und das Hochzeitsritual aber gehörten ursprünglich, wie es scheint, nicht zu Marduk und noch weniger zu Jahwe. Das Drama beginnt mit der Darstellung des Leidens und Todes, wobei das Wort „Tod“ jedoch absichtlich vermieden oder vorsichtig umschrieben wird. Kraftlos und mit Blut bedeckt weilt der Gott in den beiden „Bergen“, d. i. im Totenreich, der unterirdischen Gerichtsstätte; Wächter sind zu seiner Bewachung bestellt, ein „Verbrecher“ (sein Mörder?) wird mit ihm zugleich abgeführt und getötet. „Eine Frau (Göttin?), welche neben ihm kauert, ist zu seiner Pflege hinabgestiegen“. Die Stadt gerät in Aufruhr; nach der mythologischen Erklärung des Ritus ist die Meinung, das die übrigen Götter das Grab stürmen, um den Götterherrn zu befreien. Nach seiner Auferstehung erfolgt die feierliche Prozession zum Festhaus außerhalb der Stadt, wo der Kampf mit den mit Tiermasken dargestellten Unterweltsmächten pantomimisch dargestellt wird. Nach der triumphierenden Rückkehr erfolgt im Tempel die Thronbesteigung und dann als Höhepunkt die Götterhochzeit auf der Spitze des Tempelturmes. Sodann wird — so müssen wir für die alte sumerische Periode ergänzen — der Kreislauf wieder geschlossen. Daß die Götterbraut mit ihrem Gefolge nicht am Leben bleiben konnte, versteht sich für die alte Zeit von selbst. Im tiefen Grabgewölbe erleidet sie den Tod in den Armen des unsichtbaren Gottes. (Ende Zitate von Franz Böhl).
Zu den Überlegungen Franz Böhls zum Königsfriedhof in Ur ist noch anzumerken, dass Böhl und seine Zeit die Zuverlässigkeit des Babylon-Berichtes Herodots noch nicht in Frage stellten. Dies hat sich jedoch in den letzten Jahrzehnten geändert, so dass Herodot nirgends mehr als Zeuge für die Verhältnisse in Babylon angeführt wird. Siehe dazu mein Aufsatz „Über den Informationswert antiker Quellen“ im Blog der Sumeria-Website (sumeria.at).
Wo und wie wurde Baal verehrt? Nicht in Mesopotamien selbst, sondern in den Randgebieten und in den Teilen der Mesopotamien umgebenden Welt, mit denen Mesopotamien in ständigem Kontakt stand. Prof. Dr. Sebastian Grätz hat zu diesem Thema auf Wibilex seinen ausführlichen Text „Baal“ (2006) beigesteuert, aus dem ich im Folgenden auszugsweise zitiere. Von Menschenopfern ist allerdings nirgends die Rede:
Dafür, dass „Baal“ ursprünglich keine eigenständige Gottheit bezeichnet, spricht, dass die ältesten Belege einer Gottesbezeichnung „Baal“ aus Götterlisten und vor allem Onomastika stammen, der eigene Kult eines Gottes Baal hier aber nicht belegt ist (Tell Abū Ṣalābīch: DINGIR ba4-al, frühdynastisch; Ebla: theophores Element in Personennamen ba-al 6, logographisch: BE; altakkadisch: Personennamen mit theophorem Element ba-lí , be-lí ; amurritisch: Personennamen der altbabylonischen Zeit ba‘lu als Prädikat und eigenständiges theophores Element; altassyrischer Gottesname Bēlum, nicht näher zu charakterisieren, aber von Adad unterschieden; Nachweise bei Schwemer, 2001, 502f). Der oben beschriebene Substitutionsprozess hat demzufolge auch eine religionsgeschichtliche Dimension, die als „Synkretismus“ der Wettergottgestalten Haddu (Addu , Adad ), Teššub und Ba‘lu in Obermesopotamien und Nordsyrien in der Spätbronzezeit beschrieben werden kann. Wenn im Folgenden von Baal als eigenständiger Gottheit gesprochen wird, dann handelt es sich um den Wettergotttypus, der seit der Späten Bronzezeit an verschiedenen Orten Nordwestsyriens verehrt worden ist und dem eindeutig der Name „Baal“ zugeordnet werden kann.
2.1. Ugarit
Bezeichnend für die tatsächliche ugaritische Kultpraxis sind, wie oben angedeutet, die Götterlisten, Opferlisten und Ritualtexte, die den Gott Baal zumeist an dritter Stelle nach El und Dagan nennen; so z.B. die Götterliste KTU 1.118, wo Baal allerdings als b‘l ṣpn („Baal-Zaphon“) erscheint und weitere „Baale“ (b‘lm) erwähnt werden. Die Distinktion der Baalsgestalten im Kult entspricht der tatsächlichen Verehrung einer Vielzahl von Baalsgestalten, die im mythischen Zusammenhang jedoch aufgehoben ist, wenn schlicht von Baal gesprochen wird. Lipiński (1995, 80f) vergleicht die verschiedenen Manifestationen Baals mit denen der Jungfrau Maria: „Notre Dame de Lourdes, N.-D. de Fatima, N.-D. de Banneux, etc.“
2) Chaoskampf und Gewalt: Das Chaoskampf-Mythem „Baal kämpft gegen Jammu" (v.a. KTU 1.2,IV,7-31;), steht in einem engen Zusammenhang mit der kriegerischen Gewaltbereitschaft des Wettergottes, die auch dessen Darstellung mit einer Waffe zum Ausdruck bringt. Während Marduks Kampf im babylonischen Schöpfungsmythos Enuma Elisch auf die Erschaffung der Welt zielt, zeigt Baals Sieg über Jammu, dass er des Königsamtes würdig ist. Eine denkbare Interpretation des Mythos lenkt daher die Aufmerksamkeit auf den (menschlichen) König und dessen kriegerische Aktivitäten.
3) Königtum Gottes: Das göttliche Königtum wird Baal nach dessen Sieg über Jammu von Anat (KTU 1.3,V,32) und Aschirat (KTU 1.4,IV,43f) zugesprochen, um El zu motivieren, dem Baal einen Palast zu erbauen. In KTU 1.4,VII,50ff, proklamiert Baal selbst sein Königtum, jedoch nicht im Zusammenhang mit seinen kriegerischen Taten, sondern als Erhalter und Ernährer von Göttern und Menschen. Dieses Motiv steht in engem Zusammenhang mit der Vorstellung von Baal als Spender von Regen und Tau, die Feldarbeit und Ernte ermöglichen, sowie mit seiner aktiven Herrschaftsausübung, die er – im Aufbau des Baal-Zyklus – in seinem Palast antritt und dann wiederum an Mot verliert.
4) Lebenserhaltung und Schöpfung: Die schöpferische Lebenserhaltung durch die Gabe von Regen und Tau ist die zentrale Funktion des ugaritischen Wettergottes Baal. Dies bezeugen zahlreiche Texte (z.B. KTU 1.4, V,6ff; 1.4,VII,25ff; 1.12; 1.19, I, 38ff; 1.101).
2.2.1. Emar
Die den ugaritischen in etwa zeitgenössischen Textfunde aus Emar verraten, dass am mittleren Euphrat der Wettergott sowohl Adda als auch Ba‘lu genannt wurde. Nach Schwemer (2001, 552) zeigt dies, dass Baal den ererbten Namen des Wettergottes (Adad / Addu) hier, anders als im syrischpalästinischen Küstenstreifen, nicht vollständig verdrängen konnte. Konventionell wird das Logogramm DINGIR IŠKUR jedoch Ba‘lu gelesen.
2.2.2. Ägypten
Die Baalsverehrung in Ägypten ist zunächst wahrscheinlich mit den Hyksos verbunden, wie ein Rollsiegel aus der Hauptstadt der Hyksos, Avaris (Tell el- Ḍab‘a) im Nildelta, belegt. Es stammt aus der Zeit um 1800 v. Chr. und zeigt den schreitenden Wettergott auf zwei Berggipfeln (s.o. 2.1.4. mit Abb. 2). Eine ägyptische Adaption der Baalsverehrung ist die Identifikation Baals mit dem Gott Seth (Stadelmann, 1967, 32f), wie sie auch auf der sog. Mami-Stele aus Ugarit greifbar wird. Weitere Evidenz für diese Identifikation bieten Siegel und Zeichnungen aus dem (ägyptisch beeinflussten) palästinischen Bereich der Spätbronzezeit, die Baal-Seth als Chaosbekämpfer darstellen: Die Präsentation von Baal-Seth als u.a. Schlangenbekämpfer weist ihn nach Keel / Uehlinger sowohl im ägyptischen als auch im kanaanäischen Denken als Rettergestalt vor den Chaosmächten aus (Keel / Uehlinger, 1992, 86ff).
3. Baalsverehrung im 1. Jt. v. Chr. im syrophönizischen und palästinischen Raum: Die vor allem im Gebiet der syro-phönizischen Küste nachweisbare Tendenz der Späten Bronzezeit, den ursprünglichen Titel „Baal“ als Namen des Wettergottes zu verwenden, setzt sich im 1. Jt. fort. Im phönizisch-kanaanäischen Bereich wird der Wettergott unter dem Namen Baal verehrt, im aramäischen Bereich dagegen unter seinem ursprünglichen Namen Hadad / Adad.
3.1. Phönizien und Syrien
Die Belege weisen insgesamt weiterhin eine Differenzierung unterschiedlicher, z.T. lokaler Baalsgestalten auf. Die phönizisch-hieroglyphenluwische Inschrift von Karatepe (KAI 26) aus dem späten 8. Jh. v. Chr. zeigt ein Nebeneinander des absoluten Gebrauches von Baal und seiner Manifestationen, wie z.B. dem seit dem 1. Jt. v. Chr. prominenten „Baal des Himmels“, der hier im Fluchabschnitt dem Schöpfergott El vorgeordnet ist. Auf der anderen Seite ist anscheinend b‘l krntrjš , dessen Statue ja auch die Inschrift trägt, als Stadtgott verehrt worden, so dass in der Verehrung, wie bereits in Ugarit, verschiedene Manifestationen Baals nebeneinander standen. Auch b‘l ṣdn („Baal von Sidon“), ist eine Stadtgottheit, für die es, wie die Eschmun‘azar-Inschrift zeigt, einen Tempel gab, die aber hinsichtlich ihrer Funktionen nicht genau zu bestimmen ist.
Für das Postulat von überregionalen Manifestationen Baals ist der Vertrag Asarhaddons mit dem König Baal von Tyrus aus dem Jahr 683/2 v. Chr. von Bedeutung, der in einer Reihe von Flüchen an erster Stelle der kanaanäischen Götter, noch vor den eigentlichen tyrischen Stadtgöttern, Melqart und Eschmun, die Baals-Manifestationen „Baal des Himmels“ (DINGIR ba-al sa-meme), „Baal malagê“ (DINGIR ba-al ma-la-ge-e) und „Baal-Zaphon“ (DINGIR ba-al ṣapu-nu) nennt. „Baal malagê“ (Lipiński, 1995, 243f,: „Baal des traversées“) ist dabei möglicherweise eine maritime Adaption des über Berge schreitenden Wettergottes, der ikonographisch häufig belegt ist. Die vorrangige Nennung des „Baal-Zaphon“ und des „Baal des Himmels“ weist jedoch auf eine überregionale Bedeutung zumindest dieser beiden Götter (Timm, 1982, 238f), die sich für „Baal-Zaphon“ ja schon in Memphis zeigte und die sich auch für den „Baal des Himmels“ im Verlauf des 1. Jt.s v. Chr. nachweisen lässt (Byblos, 10. Jh.: KAI 4,3; Umm el ‘Awāmīd, 2.Jh.: KAI 18,7; aramäisch: Afs, 8. Jh.: KAI 202, A,3f u.ö.). Hinzu kommen, durch die Phönizier vermittelt, weitere Belege aus dem gesamten Mittelmeerraum, die hier jedoch nicht in den Blick genommen werden können.
3.2. Palästina
In Palästina kommt der Gottesname Baal außerhalb der Bibel lediglich epigraphisch in einer Inschrift aus Kuntillet ‘Aǧrūd (im südwestlichen Negev; [Kuntillet Agrud ]) vor: „Gepriesen sei Baal am Tage des Krieges“ (HAE, KAgr [9]: 7,2; 9. Jh. v. Chr.). Die verwendete phönizische Schrift weist wohl auf die Herkunft des Schreibers, der in dem antiken Gebäudekomplex Station machte. Personennamen, die „Baal“ als theophores Element enthalten, sind aufgrund der Samaria-Ostraka (8. Jh. v. Chr.) vor allem in Samaria und seiner Umgebung belegt.
Dem Baal-haltigen Onomastikon aus Samaria stehen eine größere Anzahl JHWHhaltiger Personennamen gegenüber, so dass allein aus diesem Befund auf eine gewisse, aber nicht dominante religiöse Rolle Baals in Samaria geschlossen werden kann. Das überlieferte Onomastikon insgesamt verrät für das eisenzeitliche Palästina immerhin so viel: Der Gott Baal hatte in der Benennung von Personen eine gewisse Bedeutung, die aber nur für Samaria, die Hauptstadt Israels, im 8. Jh. v. Chr. nachweisbar ist. Der Einzelbeleg aus der Küstenebene (Məṣad Chăšavjāhû) zur Zeit Josias (?) besitzt wenig Aussagekraft. Juda selbst ist anscheinend frei von Personennamen, die mit „Baal“ gebildet werden (Avigad / Sass, 1997, 489). Der Überblick zeigt, dass im Alten Testament durchaus Baal-haltige Personennamen begegnen, diese aber – entsprechend dem epigraphischen Befund – vergleichsweise selten sind. Dennoch zeigt das theophore Element „Baal“, dass der Kult dieses Gottes in den frühen Zeiten Israels nicht unbekannt war oder der Gott vielleicht sogar mit JHWH identifiziert wurde.
4.2. Baalspolemik
Angesichts der Ergebnisse aus 3.2. muss die harsche Polemik gegen „Baal“, die sich an manchen Stellen des Alten Testaments findet, etwas verwundern. Ausgangs- oder Kristallisationspunkte der alttestamentlichen Polemik gegen „Baal“, stets mit Artikel, finden sich in erster Linie in den Erzählungen um Gideon / Jerubbaal (s.o. 4.1.3.:„Baal-Berit“; 4.1.2.:„Jerubbaal“) und um die Dynastie Omri; und zwar hier im Elia-Zyklus und in den Erzählungen zu der Revolte des Jehu, die darauf zielen, den von den Omriden gepflegten Baalskult in Israel zu bekämpfen und auszurotten. In der prophetischen Überlieferung sind die Bücher Jeremia und Hosea zu nennen.
3) 2Kön 10,15-16.18-30: Die Ausrottung des Baalsdienstes durch Jehu. Die ironische und blutige Erzählung liegt in der Flucht von 1Kön 16,31.32-33 und 1Kön 18,3ff und schließt den langen Exkurs des Baalsdienstes der Omriden und dessen Bekämpfung durch Elia (dessen Name „Mein Gott ist JHWH“ bedeutet) ab. Wie oben schon angedeutet, tragen diese Erzählungen deuteronomistisches Kolorit und sind deshalb historisch nicht ohne weiteres zuverlässig. Dass es eine begrenzte Baalsverehrung im eisenzeitlichen Samaria gegeben hat, zeigen die überlieferten Personennamen aus dieser Region. Doch sowohl die Mehrzahl der epigraphischen Personennamen aus Samaria als auch die Tatsache, dass die Söhne Ahabs, Ahasja und Joram, Namen mit JHWH als theophorem Element tragen, spricht nicht für einen Vorrang des Gottes Baal in Samaria überhaupt und zur Zeit der Omriden im Speziellen. Anknüpfungspunkt für die deuteronomistische Baalspolemik, die im Dienst der Untergangsätiologie Israels und Judas steht, könnte die Verschwägerung Ahabs mit dem sidonischen König Etbaal sein, durch dessen Tochter Isebel quasi das Unheil nach Israel vermittelt wurde.
4.3. JHWH und Baal
Das alttestamentliche Palästina war – wenige Ausnahmen bestätigen die Regel – im 1. Jt. v. Chr. nicht das Land Baals, sondern das Land JHWHs. Dass die Baalspolemik in bestimmten Teilen des Alten Testaments einen breiten Raum einnimmt, ist der deuteronomistischen Geschichtssicht geschuldet, die nach der theologischen Ursache der Zerstörung Israels und Judas fahndet. So wurde z.B. in der wahrscheinlich historischen Verschwägerung Ahabs mit „Etbaal“ von Sidon über dessen Tochter Isebel ein generelles Einfallstor des Baalsdienstes nach Israel gesehen und zu einer Geschichte der Konkurrenz von JHWH und Baal stilisiert. Der Konkurrent verführte nach dieser Sicht die Einwohner Israels und Judas zum Abfall vom monolatrischen Hauptgebot, die theologische Ursache des Untergangs der beiden Staaten. Die lange beobachtete Zeichnung JHWHs mit Hilfe von Motiven des Chaoskämpfers und Kriegsherrn (u.a. Ex 15,21; Jes 51,9; Ps 29; Ps 46), „Wolkenreiters“ (Ps 68,5), Regen- und Tauspenders (u.a. 1Sam 1,21; 2Kön 18; Jes 5,6; Jer 14f), „verschwundenen Gottes“ (Hos 4ff), theophanen Bergnumens (u.a. Dtn 33,2; Ri 5,4-5; Am 4,13b; Hab 3,3-6. Ps 48,3; Ps 97), Gottkönigs (u.a. 1Kön 22,19-22; Jes 6; Ps 47; Ps 93; Ps 97) usw. nimmt auf der anderen Seite Motive auf, die auch für Baal überliefert sind, die aber insgesamt dem „Synkretismus“ der Wettergottgestalten in Obermesopotamien und Nordwestsyrien seit der späten Bronzezeit (s.o.1.) entstammen dürften. (Ende der Zitierungen von Grätz).
Nachdem ich bisher mit Hilfe verschiedener namhafter Autoren nachweisen konnte, dass es Menschenopfer in Mesopotamien und auch einen auf Menschenopfer ausgerichteten Baalskult offensichtlich nicht gegeben hat, möchte ich abschließend noch ausführlich auf die Bewertung der einzigen Relikte in Mesopotamien eingehen, die die Kriterien „Menschenopfer“ erfüllen, wenn auch nur sehr speziell und am Rande, und die normalerweise überhaupt nicht in Betracht kommen, wenn wir allgemein von Menschenopfern sprechen. Dr. Helga Vogel (FU Berlin) hat sich in ihrer Dissertation von 2008, aus der ich im Folgenden zitiere, ausführlich mit diesem Thema beschäftigt. Es geht wieder um unser Eingangsthema, die Königsgräber von Ur:
Als Erster äußerte sich Sidney Smith (1928). Er verband die Befunde der Schachtgräber RT.789 und RT.800 mit religiösen Riten (Fruchtbarkeitskult), die womöglich anläßlich von Neujahrsfeierlichkeiten ausgeführt wurden. Smith hielt es insbesondere für unwahrscheinlich, dass 'Menschenopfer' bei der Bestattung einer Königin zu erwarten seien. Smith: " Menschenopfer am Grab einer (verwitweten?) Königin müssen ungewöhnlich und in einem östlichen Land schwer zu erklären sein " (Smith 1928: 863).
Zum Beitrag Böhls[4] äußerte sich 1931 zunächst Benno Landsberger im Rahmen seiner Besprechung der von C.J. Gadd und L. Legrain 1928 publizierten Texte (RoyalInscriptions) aus Ur. Landsberger argumentiert, "dass nin in sumer. Zeit Korrelat zu lugal ist, was aus zahllosen, einander korrespondierenden Personennamen mit Lugal- bzw. Nin- hervorgeht. Dies spricht entschieden dafür, dass auch die bekannte SUB-at [= Pû-abī] wirklich Königin war und nicht Hohepriesterin des Mondgottes, wie Böhl (...) annimmt. Jedenfalls kennen schon die Gräberfunde für >hohe Priesterin< nin-dingir; andererseits wurde die Hohepriesterin des Nannar niemals nin-dingir, sondern en genannt (...)" (Landsberger 1931: 126-127).
Wenig später reagierte Friedrich Blome in seinem 1934 erschienenen Werk Die Opfermaterie in Babylonien und Israel auf die Vorschläge von Böhl. Blome notiert hinsichtlich der 'Leichenfunde in Ur': "Nach allem möchte man es für wahrscheinlicher halten, dass die in den Grabgewölben getöteten Menschen ihr Leben lassen mussten anlässlich des Begräbnisses der fürstlichen Herrschaften. Eine andere Frage ist dann aber, ob solche Massenschlachtungen als Menschenopfer zu gelten haben. Zwar bestand die Neigung, die Könige nach ihrem Tode, wenn auch wohl in einem untergeordneten Range, dem Pantheon einzureihen. Aber wenn das die ratio gewesen wäre für die Tötung von Menschen, so würden wir erst recht für die Götter höheren und höchsten Ranges dies wertvollste Opfer erwarten. Nun treffen wir aber auch anderswo den Brauch, verstorbenen Kriegern und Königen ihre Frauen, ihren Hofstaat und ihre Dienerschaft ins Grab nachzuschicken, damit sie in den himmlischen Gefilden Bedienung haben; in diesem Falle ist es nicht berechtigt, von Menschenopfern zu sprechen. Man wird immer noch am besten von hier aus die Leichenfunde in denGräbern von Ur erklären dürfen" (Blome 1934: 413).
Im gleichen Jahr - 1934 -, in dem Blomes vorgenannte Monographie erschien, legte Sir Leonhard Woolley die Endpublikation des Royal Cemetery vor. Für Woolley sind, wie schon erwähnt, neben den Besonderheiten der Anlage der Gräber (tiefer Schacht und Grabkammer) vorrangig die 'Menschenopfer' ("human sacrifices" respektive "victims") das wichtigste Argument für seine von Anfang an vertretene Ansicht, dass es sich bei den 16 Schachtgräbern des Royal Cemetery um Royal Tombs handelt. "Human sacrifices", so der Ausgräber, kommen ausschließlich in Verbindung mit Grabkammern vor, sie sind kein Vorrecht einer lediglich wirtschaftlich priviligierten Klasse, da sie in überaus reich ausgestatteten sog. Privatgräbern niemals vorkommen und sie sind auch kein Privileg eines Geschlechts. Darum: "Es muss ein Attribut des Königtums sein, und da da Opfer Gottheit bedeutet, impliziert dies, dass für die Sumerer das Königtum, das, in den Worten der Königslisten 'von oben herab gesandt wurde', ein Element der Göttlichkeit war (...)"(Woolley (UET II) 1934: 41). Hinsichtlich des Status der sog. Gefolgsleute notiert Woolley zunächst: "(...) Der Hauptbewohner der Steinkammer war mit genau den Dingen ausgestattet mit eben jenen Dingen, die in den Privatgräbern unveränderlich sind und als notwendiges Mobiliar der Toten erscheinen, während die Untergebenen nichts dergleichen haben; sie befinden sich nicht einmal in der Haltung, in der die Toten immer aufgebahrt wurden; er behält also seine Persönlichkeit, sie aber nicht - Sie sind ebenso sein Eigentum wie die Becher und die Speere, die Ochsen und die Harfen; es ist nicht ihr Begräbnis, und deshalb bedürfen sie nicht der Versorgung, die ihm zusteht: die Hauptperson wird begraben; die übrigen werden nicht begraben, sondern zu seiner Ehre geopfert" (Woolley (UET II) 1934: 38). Woolley geht davon aus, dass die 'mitbestatteten' sog. Gefolgsleute durch eine Gifttrankgabe zu Tode kamen.Nachdem Woolley einerseits die 'Gottähnlichkeit' der sumerischen Könige in seiner Argumentation weiter befestigt hat (in Auseinandersetzung mit den Ideen von Smith und Böhl), andererseits - und zwar aufgrund der Befunde der RTs.789/800 – das Erscheinungsbild der sog. Gefolgsleute als das eines Hofstaates (respektive des Haushalts des Königs oder der Königin) bestimmt hat, hinterfragt er jedoch den 'Opfer-Status' der Menschen, die mit einer Hauptbestattung 'mitbestattet' wurden, und postuliert, " dass es sich um ein Privileg und nicht um ein über sie verhängtes Unheil handelt " (Woolley(UET II) 1934: 42). Woolley argumentiert: "Möglicherweise ist das Wort 'Opfer' in diesem Zusammenhang irreführend. Ich habe darauf hingewiesen, dass den Männern und Frauen, die sich in der Todesgrube drängen, offenbar keine Gewalt angetan wurde, sondern dass sie in aller Ruhe von der bereitgestellten Droge tranken und sich zum Schlafen niederlegten. Mir scheint es wahrscheinlicher, dass sie nicht zu Ehren des toten Königs getötet wurden, auch nicht, weil ihre Dienstzeit mit seinem Leben enden musste, sondern dass sie mit ihrem göttlichen Herrn mitgingen, um ihren Dienst unter neuen Bedingungen fortzusetzen, wobei sie sich möglicherweise sogar einer weniger nebulösen und elenden Existenz in der jenseitigen Welt versicherten, als es das Los der Menschen war, die auf gewöhnliche Weise starben (...) Es scheint mir wahrscheinlich, dass die Mitglieder des königlichen Hofes, die mit ihrem König gingen, in eine höhere Sphäre des Dienstes versetzt wurden und so einen Vorteil gegenüber den einfachen Menschen hatten." (Woolley (UET II) 1934: 42). Hinsichtlich der weiblichen Hauptbestattungen verankert Woolley sein Argument, dass diese regierende Königinnen gewesen seien, vorrangig im sumerischen Titel 'nin', der in der Inschrift des Siegels der Pû-abī bezeugt ist; der 'divine status' der Königinnen wird in Woolleys Argumentation aber weiterhin nicht näher besprochen.
Anton Moortgat hat sich im Rahmen seiner Monographie Tammuz – der Unsterblichkeitsglaube in der altorientalischen Bildkunst, erschienen 1949, im Abschnitt "Sumerischer Totenglaube" zu einzelnen Royal Tombs geäußert. Grundsätzlich geht Moortgat hinsichtlich der Interpretation der Royal Tombs davon aus ,dass "ihre Gesamtanlage und die in ihnen festgestellten Massenbestattungen nur aus einem mit dem Tammuz-Mysterium zusammenhängenden Totenglauben zu begreifen sind" (Moortgat 1949: 54). Ausführlich beschäftigt sich Moortgat mit dem Grab RT.789. Im Gegensatz zum Ausgräber vertritt Moortgat die Annahme, dass das Grab nicht bei der Anlage des Schachtes respektive der Grabkammer der Pû'abī (RT.800) durch die Kuppel der Grabkammer ausgeraubt wurde, sondern dass die Grabkammer dieses Grabes absichtlich im Zusammenhang eines Ritus des 'Tammuz-Glaubens' geöffnet wurde. Moortgat: "PG 789 muss das Grab eines Königs sein, der bei Neujahrsfesten der Vertreter des Tammuz war, der bei seinem Tode nicht als König, sondern als Gott Tammuz sein gesamtes Gefolge mit in die Unterwelt nahm. Er stirbt nicht endgültig, wird vielmehr wie der Gott seine Auferstehung feiern. Diese wird symbolisch vollzogen durch Aufbrechung seiner Gruft und Enfernung seines Sarges und seiner Leiche. (...) Sie [die Okkupantin der Gruft RT.800, ob Königin oder Hohepriesterin lässt Moortgat offen] hatte im Leben die Innin, die Muttergottheit zu vertreten. Ihr Tod mag als diejenige Episode im Tammuz-Mythus empfunden worden sein, die wir aus den spätsumerischen Liedern der Höllenfahrt der Ischtar kennen. Die tote Königin fährt zu ihrem Gatten in die Unterwelt; auch sie nimmt als Vertreterin der Innin ihr gesamtes Gefolge mit in das Jenseits. Vielleicht feiert sie mit ihm dort noch einmal symbolisch die Hochzeit, bleibt dann aber beigesetzt in ihrer Gruft 800, ebenso wie auch sämtliche Gefolgsleute in der Unterwelt bleiben. Sie feiern keine Wiedergeburt. Wenigstens werden sie nicht symbolisch in das Leben heraufgeholt" (Moortgat 1949: 65-66). Hinsichtlich der sog. Gefolgschaftsbestattungen notiert der Autor: "Alles wird verständlich mit Hilfe dessen, was wir über den Tammuz-Glauben und seinen Kult, vor allem die Feier der heiligen Hochzeit wissen. Auch versteht man, warum so viele Menschen ohne Bedenken in den Tod gehen konnten; sie gehen nicht in einen Tod, der ein Endzustand ist, sondern Übergang zu neuem Leben, sowie es ihr König und Gott Tammuz verkörpert. Wir brauchen also bei der Deutung derSchachtgräber nicht mehr an ein barbarisches Menschenopfer zu denken, das in seiner Primitivität zu einer so hohen Kulturstufe wie sie die Ur I-Zeit erreicht hatte, nicht mehr passen will" (Moortgat 1949: 66). Moortgat versucht seine Ideen im weiteren Verlauf der Darstellungen des vorgenannten Werkes anhand der Grabanlagen RT.1050 und RT.1054 und der sog. Todesschächte zu verifizieren, jedoch will Moortgat dies nicht so recht gelingen; er kann de facto keinen weiteren 'Beweis' für ein absichtliches Aufbrechen eines Grabes und die Heraufholung eines 'Tammuzvertreters' erbringen.
Die Diskussion über die Befunde des Royal Cemetery startete erst wieder 17 Jahre nach Moortgats vorgenannter Publikation mit der 1966 erschienen Dissertationsschrift von Hans J. Nissen. Nissen hat in seinen verschiedenen Beiträgen zum Royal Cemetery (vgl.Nissen 1966, 1990, 1991, 1999a, 1999c, 2000a) den Reichtum an Gegenständen aus Edelmetallen, Kupfer, Bronze und Elektron, aus Halbedelsteinen und anderen farbigen Steinen, aus Muschel und verschiedenen Steinsorten, die in den Gräbern des Friedhofes entdeckt wurden, als Zeugnis für weitgespannte und offensichtlich ungestörte Handelsbeziehungen in den frühdynastischen Perioden gedeutet. So gut wie alle vorgenannten Rohstoffe kommen in Babylonien bekanntlich nicht vor und müssen also importiert werden. Nissen erkennt im Zeugnis der vorgenannten wertvollen Inventare der Gräber des Royal Cemetery darum auch ein Gegenargument zum Bild des Frühdynastikums als einer Zeit der äußeren Unruhe, wie es die Herrscherinschriften, die vorrangig Berichte über militärische Erfolge enthalten, entwerfen. Weiterhin vertritt Nissen die These, dass, weil man wertvolle Gegenstände aus Edelmetallen und Halbedelsteinen nicht nur in den Royal Tombs fand, sondern zum Teil auch in Privatgräbern, "man von einer größeren Streuung des Reichtums ausgehen können wird" (1999a: 55). Nissen kommt vor diesem Hintergrund zu dem Schluss, dass der von Woolley aufgedeckte Royal Cemetery eine kommunale Begräbnisstätte war und folgerichtig also nicht nur "als Begräbnisstätte (...), beschränkt auf Bestattungen von Personen die mit den Bewohnern der Königsgräber institutionell verwandt waren [genutzt wurde]" 1991: 186). Nissen hält die sog. Gefolgschaftsbestattungen für eine Sitte, da sie immerhin mehrere Generationen umspannen. Nissen erklärt, dass "ganz offenbar (...) die Absicht bestand, den Hauptpersonen einen angemessenen Dienerstab mit ins Jenseits zu geben. Das lässt uns darauf schließen, dass es sehr konkreteVorstellungen über ein Leben nach dem Tode gab, denen zufolge das Leben in ähnlichen Bahnen wie auf der Erde nur in einer anderen Welt verlief" (Nissen 2000a:7). Im Verlauf seiner weiteren Argumentation bezieht Nissen sowohl die Grabanlagen selbst als auch ihre Inventare und auch die 'Mitbestattungen' der Royal Tombs auf den Ausbau von persönlichem Prestige der Machthaber Urs sowie ganz insgesamt auf das Ziel der Machterhaltung der Herrschenden. Die letztgenannten Vorgänge bleiben, so Nissen, vor einem sich verändernden soziopolitischen Hintergrund zu rezipieren, der durch starke Landflucht, ausgelöst durch klimatische Veränderungen, einer Konzentration der Bevölkerung in den urbanen Zentren sowie der Notwendigkeit, den Umfang an bewässerbarer Ackerfläche zur Versorgung der Bevölkerung zu erhöhen, gekennzeichnet ist. Die vorgenannten Faktoren führten dazu, dass die jeweiligen städtischen Eliten "ihre bereits bestehende weitreichende Kontrolle über die Produktion von Nahrungsmitteln und sonstigen Gütern weiter (...) ausdehnen konnten. Gleichzeitig bedeutet das aber einen ungeheueren Zuwachs an Macht und Reichtum für die zentralen Stellen bzw. für den Herrscher" (Nissen 2000a: 13). Nissen weiter: "Die weitere Anhäufung von Reichtümern in den vorgenannten Institutionen führte zu einer Art von demonstrativem Konsum, der lediglich den Zweck verfolgt, Prestige zu erhöhen und andere auszustechen. In diesem Sinne sind vermutlich die prächtigen Beigaben aus edlen Metallen und Steinen neben einer großen Fülle alltäglicher Gegenstände zu verstehen, die in den Königsgräbern in Ur lagen. Aber auch dieser demonstrative Konsum lässt sich nicht uferlos steigern, so dass es dann in einer maßlosen Übersteigerung zum demonstrativen Konsum von menschlichem Leben kommt: die Gefolgschaftsbestattung wäre somit als letzte Steigerung eines nach außen gezeigten Prestigebedürfnisses zu verstehen" (Nissen 2000 a: 13-14). Das Ende der großen Schachtgrabanlagen in Ur und damit auch das Ende der sog. Gefolgschaftsbestattungen bringt Nissen mit einer während der FD-IIIB-Zeit sich verändernden politischen Landschaft in Verbindung. Das Prestigebedürfnis der Herrscher findet in den Kämpfen um die Durchsetzung territorialer Machtansprüche neue Ventile. Nissen nimmt an, dass "die genannten Übersteigerungen nicht zu dem neuen Bild der Herrschaft passten" (Nissen 2000a: 14).
11 Jahre nach der 1966 publizierten Dissertation von Nissen, wurde die Diskussion über die Befunde des Royal Cemetery erneut aufgenommen. P.R.S. Moorey veröffentlichte 1977 in der Zeitschrift Expedition einen längeren Artikel zu den Befunden der Royal Tombs in Ur mit dem Titel "What do we know about the people buried in the Royal Cemetery?", der recht einflussreich werden sollte. Moorey problematisiert in dem vorgenannten Artikel die Annahme Woolleys, dass in den großen Schachtgrabanlagen Könige und Königinnen bestattet worden seien. Stattdessen erscheint Moorey ein sakraler Hintergrund (Kult um den Mond- und Stadtgott Nanna) für die aufwendigen Bestattungen wahrscheinlicher. Die weiblichen Hauptbestattungen der Royal Tombs seien darum möglicherweise doch Priesterinnen, genauer Priesterinnen, die für einen begrenzten Zeitraum als Gattin des Gottes Nanna fungierten. Für die männlichen Hauptbestattungen der Royal Tombs nimmt Moorey hingegen (mit Woolley) einen vergöttlichten Status an. Moorey geht zunächst von den Befunden der steinernen Grabkammer, die Woolley auf dem Boden des Schachtes RT.1054 freilegen konnte, aus. In dieser Grabkammer fand man eine ungestörte weibliche Hauptbestattung, im Zentrum der Kammer liegend und bedeckt mit Goldschmuck, in den Händen ein Goldgefäß haltend und weiterhin ausstaffiert mit einem Goldsiegel, welches mit Bankettszenen dekoriert ist. Sie war von vier sog. Gefolgsleuten umgeben. Moorey fragt: " Ist es möglich, dass diese königliche Dame sie [= die männlichen Hauptbestattungen der Schachtgrabanlagen] kraft eines anderen Amtes als das der Königin von Ur verdient hat?“ (Moorey 1977: 33). Seine Argumentation führt Moorey fort, indem er die Geschlechterverhältnisse der sog. Gefolgschaftsbestattungen untersucht und zu dem Schluss gelangt: "Die große Anzahl von Frauen unter den Opfern ist trotz dieser unregelmäßigen Belege eindeutig und möglicherweise ein wichtiger, wenn auch schwer fassbarer Hinweis auf den besonderen Charakter einiger dieser Bestattungen " (Moorey 1977: 35). Das vorgetragene Argument führt Moorey nunmehr aber nicht weiter aus, sondern er wendet sich Texten zu, die einerseits Auskunft über den Tod von Hohenpriesterinnen des Nanna, andererseits über mögliche sog. Gefolgschaftsbestattungen beim Tod eines Stadtfürsten/Königs geben können sollen. Er zitiert eine Passage aus der Dichtung The Exaltation of Inanna = NIN ME ŠARA der akkadischen Prinzessin und Hohepriesterin des Mondgottes Nanna, Enḫeduanna. Die entscheidende Zeile (= Zeile 99) lautet in der von W.W. Hallo besorgten Übersetzung von 1968: "(...) Beim Klang meines heiligen Liedes sind sie bereit zu sterben" (Hallo 1968, zit. n. Moorey 1977: 38); es spricht Enḫeduanna. Moorey weiter: "Der Übersetzer hat die Vermutung geäußert, dass es sich bei der letzten Zeile um eine Anspielung auf das Begräbnisritual handeln könnte, an dem ein ganzes Gefolge zusammen mit einer "Königin" oder Hohepriesterin beteiligt war, wie Woolley festgestellt hat " (Moorey 1977: 38). Es ist bekannt, notiert Moorey, dass die Hohenpriesterinnen des Mondgottes von königlichem Blut waren und in einem besonderen Gebäude, dem gipāru, als "menschliche Frau von Nanna, die seine göttliche Frau Ningal vertritt", residierten. "Es gibt spärliche archäologische Beweise für die Existenz der gipāru bereits in der frühdynastischen Zeit; aber es gibt keine inschriftlichen Belege aus dieser Zeit, die mit Sicherheit eine Hohepriesterin von Nanna nennen" (Moorey 1977: 37). Anschließend diskutiert Moorey die berühmte Stelle aus der sumerischen Dichtung Gilgamesh's Dream and Death respektive 'The great wild bull is lying down', welche von der Bestattung des Gilgameš in seiner steinernen Grabstätte, die unterhalb des Flußes Euphrat liegen soll, handelt. Strittig ist, ob mit Gilgameš auch sein sog. Hofstaat beigesetzt wird oder eben nicht. Moorey argumentiert, dass wegen Unsicherheiten in der Übersetzung und vor allem aufgrund der Tatsache, dass die Grabkammer der Pû-abī einige Zeit nach der Bestattung ihres Gatten in RT.789 (wird mit Woolley nunmehr wieder vorausgesetzt) angelegt wurde, keine weitreichenderen Schlüsse aus den zuletzt genannten Texten gezogen werden können. Moorey: "Kurzum, der "Tod des Gilgamesch" lässt nicht vermuten, dass die sumerischen Herrscher ihre Haushalte wie selbstverständlich in die "Todesgruben" nahmen. Der Schlüssel zu diesen Gräbern in Ur, die anderswo im Irak immer noch ohne Parallele sind, liegt vielleicht nicht so sehr in Fragen des "Königtums oder der Monarchie", wie wir sie uns heute vorstellen, sondern in einer speziellen Kultpraxis in Ur, die sich insbesondere auf den Gott Nanna bezieht" (Moorey 1977: 39). Zusammenfassend kommt Moorey zu folgendem Ergebnis: "Die Bestattung mit menschlichen Opfern wie auch die Primärbestattung ist eindeutig ein besonderer Ritus für besondere Menschen - aber was machte sie so besonders? (...) Bei den Männern mag es eine Frage des Ausmaßes sein, in dem sie im Leben einen göttlichen oder halbgöttlichen Status angenommen hatten, wie einige der Herrscher der späteren Dritten Dynastie von Ur. Bei den Frauen ist der Fall noch komplexer und hängt möglicherweise nicht so sehr davon ab, ob sie 'Königinnen' im modernen Sinne waren oder nicht, sondern eher davon, ob sie für einen bestimmten Zeitraum ihres Lebens 'Frau von Nanna' oder einen vergleichbaren Rang in der Tempelhierarchie von Ur innehatten oder nicht." (Moorey 1977: 40). Als einzigen Beleg für die letztgenannte Annahme kann Moorey aber nur die oben zitierte Zeile aus der Dichtung der Enḫeduanna in der zitierten Übersetzung von Hallo anführen.
Etwa zeitgleich mit Moorey beschäftigt sich Charles L. Redman in seiner Monographie The Rise of Civilization (1978) auch mit dem Royal Cemetery in Ur, jedoch von anderen Problemstellungen als Moorey ausgehend. Redman bezieht die Befunde der Royal Tombs auf Fragen der Konstituierung von Herrschaft und bemerkt, dass "auch wenn nachgewiesen werden kann, dass religiöse Zeremonien mit dem Auftauchen und Verschwinden von Menschen- (und Sach-) opfern in großem Umfang in der zweiten Hälfte der frühdynastischen Zeit zusammenhingen, so erklärt diese Dokumentation doch nicht hinreichend, warum das Phänomen auftrat" (Redman 1978: 297). Seine zentrale These lautet: Die aus den materiellen Befunden deduzierbaren Bestattungsrituale der Royal Tombs sind politische Rituale, die der Stabilisierung und der Fortsetzung bestehender Herrschaftsverhältnisse dienten (dienen sollten). Die Strategie der Verschwendung respektive Zerstörung von Ressourcen (Waren und Menschen) muss folgerichtig in Hinblick auf die symbolische Konstruktion von Herrschaft im frühdynastischen Ur untersucht werden. Seine Argumente zusammenfassend notiert Redman: " Die besondere Bedeutung, die diese opulenten Bestattungen für die Entstehung der weltlichen Macht hatten, war wohl eines von vielen Instrumenten [Redman geht davon aus, dass in der Ğemdet-Naṣr-Zeit und in der FD-I-II-Zeit die Macht bei den Tempeleliten lag]. Die Könige waren mächtig genug, um während ihrer Regentschaft große Mengen an Reichtum anzuhäufen, aber die Institution war nicht so mächtig und geregelt, dass sie sich selbst erhalten konnte. Es waren immer noch Rituale erforderlich, um die Autorität des Königs in Zeiten der Nachfolge aufrechtzuerhalten. (...). Die kurze Periode der Menschenopfer zeigt auch die Macht und den Reichtum der neuen herrschenden Klasse und wie weit sie gehen würde, um ihre Macht zu erhalten. Was in kleinem Rahmen begonnen hatte - das rituelle Opfern von Reichtum im Tausch gegen einen anerkannten Status - wurde immer weiter ausgebaut, bis es schließlich große Bedeutung erlangte. Die Nachfolge der Könige schien gesichert zu sein, allerdings zu einem hohen Preis in wirtschaftlicher und menschlicher Hinsicht" (Redman 1978: 298). Und weiter: "Als die Position des Königs in der zweiten Hälfte der frühdynastischen Periode fester etabliert war, gab es weniger Notwendigkeit für diese verschwenderische Form der rituellen Bestätigung". (Redman 1978: 298).
Petr Charvát hat sich 1982 zum Royal Cemetery in einem längeren Aufsatz geäußert. In seiner 2002 publizierten Monographie Mesopotamia before History befasst er sich mit diesem noch einmal unter veränderter Perspektive. Im 1982 veröffentlichten Artikel Early Ur - War Chiefs and Kings of Early Dynastic III beschäftigt sich Charvát mit dem Zustandekommen der reichen Inventare der Royal Tombs und mit der Frage der Identität der Hauptbestattungen. Das Ergebnis seiner Untersuchungen lautet: "Der "königliche Friedhof" zeugt von der immensen Menge an Schätzen, die in fremden Ländern gewonnen wurden, während die Gräber, in denen die Reichtümer konzentriert sind, als die der Kriegshäuptlinge oder ihrer engsten Verwandten gedeutet werden können" (Charvát 1982: 52). Die Argumente lauten: 1. Es fehlen Hinweise für eine Intensivierung der Landwirtschaft im ED-III-zeitlichen Ur. Im Gegenteil, so Charvát, "Es wurde festgestellt, dass die zunehmende Versalzung des Bodens, die durch intensive Bewässerung verursacht wurde, zu unerwünschten Ergebnissen führte, die bereits um 2500 v. Chr. spürbar waren: Die landwirtschaftlichen Erträge gingen zurück, es gibt Hinweise auf Unkraut im Mais und die Umstände, die dazu führten, dass die Gerste, die toleranter gegenüber dem Salzgehalt des Bodens ist, dem Weizen vorgezogen wurde." (Charvát 1982: 45). Die Erwirtschaftung eines ökonomischen surplus wäre aber die Voraussetzung für eine Ausweitung und Verstärkung des Handels gewesen. Charvát: "Nun ist bekannt, dass die Sumerer im Austausch gegen fremde Materialien nur landwirtschaftliche Produkte anbieten konnten. Um alle genannten Materialien [= Metalle und Halbedelsteine] zu erhalten, hätte die Landwirtschaft in Ur erheblich intensiviert werden müssen. (...) Kurzum, es scheint unwahrscheinlich, dass der Reichtum von ED III Ur durch wirtschaftliche Intensivierung oder durch Handel angehäuft wurde" (Charvát1982: 45). Wahrscheinlich ist deswegen, so der Autor, dass der in den Gräbern des Royal Cemetery angetroffene Reichtum zustande kam durch "militärische Ausbeutung fremder Länder, möglicherweise direkt durch bewaffnete Aktionen gegen sie und indirekt durch die Erhebung von Tributen und den Erhalt von Geschenken als Zeichen politischer Bündnisse" (Charvát 1982: 46). Charvát weiter: "Abgesehen von den tatsächlichen Waffenfunden hilft uns hier die Standarte von Ur, eine Bildquelle von größter Bedeutung. Dies wird durch mehrere Darstellungen von Kampf- und Tributszenen (?) auf Siegelabdrücken unterstützt, die im SIS 4-5 gefunden wurden und die das Substrat mit "Königsgräbern" unterlegen und zeigen, dass der Prozess der Militarisierung während ED II begann." (Charvát 1982: 47). Charvát führt nunmehr aus, dass die Darstellung der uräischen Armee in den entsprechenden Bilderfolgen der 'Standarte' " ihre erklärte Rolle als Angriffstruppe zeigt und ihre Aggressivität deutlich macht. Da die Ur-Armee in erster Linie als Angriffstruppe konzipiert war, fehlte es ihr an geeigneten Einrichtungen zur Verteidigung." (Charvát 1982: 47). Insbesondere weist Chárvat in diesem Zusammenhang auf das Fehlen von Schildern hin und führt weiterhin an, dass Kampfwagen, wie er meint, zwar eine ausgezeichnete Angriffswaffe seien, nutzlos aber in Hinblick auf eine Verteidigung. Charvát weiter: "Erfolgreiche Feldzüge im Ausland müssen das Ansehen und die Autorität von fähigen und effizienten Kriegsführern erhöht haben (...) und sie müssen Veränderungen in der Umverteilung des Reichtums durch eine differenzierte Aufteilung der Beute und der Gewinne aus den Tributen der eroberten Länder bewirkt haben. (...) Die ungleiche Verteilung des Reichtums innerhalb der Gesellschaft gab reicheren Individuen die Möglichkeit, private Grundstücke zu erwerben." (Charvát 1982: 50). Die bereits in der ED-II-Zeit beobachtbare soziale Stratifizierung der uräischen Gesellschaft schreitet solcherweise voran. Gleichzeitig eröffnen sich für den "war chief", der ursprünglich ein Angehöriger des Tempelhaushaltes gewesen sein muss, so Charvát, sukzessiv Möglichkeiten zum Ausbau seiner Machtbasis mit der Option, ein vom Tempel unabhängiges Machtzentrum zu erschaffen, welches auf militärischer Macht und der Abhängigkeit, der Treue und der Verpflichtung von Individuen basiert, die ihre Privilegien dem "war chief" verdanken.
20 Jahre später spricht Charvát im Rahmen seiner oben genannten großen Monographie hinsichtlich der Identität der Hauptbestattungen der Royal Tombs nur noch sehr unspezifisch von "charismatic persons" respektive "charismatic leaders" (Charvát 2002: 227-228). Die Befunde der Royal Tombs bezieht Charvát nunmehr auf Prozesse der Institutionalisierung von Herrschaft und zwar auch im Sinne einer Selbstdefinierung und Ausformulierung des Statuses der gesellschaftlichen Elite(n) Urs. Die in den Befunden sich abzeichnenden Glaubensvorstellungen verbindet Charvát dabei mit elitären Anstrengungen, welche auf eine Sakralisierung von Herrschaft abzielen. Charvát: "Wir können unsere Beobachtungen zusammenfassen, indem wir vermuten, dass die Generation charismatischer Persönlichkeiten beiderlei Geschlechts - Begriffe wie Könige oder Priester entbehren jeglichem nachweisbaren sozialen Kontext für das fragliche Zeitsegment -, die in den 'Königsgräbern' von Ur bestattet wurden, eine komplexe soziale Operation durchführten, deren ultimative strategische Perspektive (...) eine radikale Transformation der aktuellen sozialen Situation und die Aufrechterhaltung ihres eigenen Status war. Ausgehend von ihrem Prestige, das sowohl auf traditionellen (verwandtschaftlichen?) Werten als auch auf persönlichen Leistungen beruhte (...), gingen sie dazu über, die Masse der Bürger von Ur - oder zumindest ihre eigenen Haushalte - in einen gigantischen Oikos einzuordnen, in dem sie sich selbst die zentralen Positionen zuwiesen und der einen beträchtlichen wirtschaftlichen Aufwand entwickelte, um seine soziale Struktur in den äußerlich sichtbaren Zeichen kostbarer Materialien zu verschlüsseln. Indem sie die (übernatürlichen?) Kräfte vor allem des weiblichen Teils der Bevölkerung mobilisierten, sorgten sie für die Heiligung des entstandenen Gesellschaftskörpers, indem sie sein postmortales und damit ewiges Modell in die Unterwelt stellten. Einige der auf dem Friedhof von Ur aufgebahrten Verstorbenen sollten sich zumindest eine Zeit lang von der Nahrung ernähren, die sie erhalten hatten (als 'viaticum'?), wie z.B. Schalen mit Fisch, Schaf-/Ziegenkeulen und getrockneten Äpfeln oder alternativ Äpfeln und Brot (...) und sogar Feigensaft in einem silbernen Gefäß, das eine Wasserschale imitierte (...). Die Toten setzten also ihre Existenz in der Unterwelt fort, und die gesamte Ur-Situation erhält Züge, die auf eine Vergötterung der lokalen Elite hindeuten, die als Konstrukteur der bestehenden sozialen Ordnung wahrgenommen wird (...)" (Charvát 2002: 228).
Hinsichtlich der 'Mitbestattung' der sog. Gefolgsleute vertritt Charvát die Meinung, dass die Hauptbestattungen "könnte von Leichen umgeben gewesen sein, die "für diesen Anlass aufbewahrt" wurden und zu Menschen gehörten, die unbedingt in der Nähe von Personen beigesetzt werden wollten, deren charismatische Bedeutung wahrscheinlich von der gesamten Gemeinschaft anerkannt wurde" (Charvát 2002: 226). Begründung: DieArgumentation Woolleys hinsichtlich des Zustandekommens des Todes der sog.Gefolgsleute (Gifttrankgabe) ist hinfällig, denn zwischenzeitlich steht fest, dass ein Trinkgefäß zur Grundausstattung eines bzw. einer Toten gehörte (gehören sollte). DieTrinkgefäße, welche bei den sog. Gefolgsleuten gefunden wurden, können somit nicht als Beweis für eine Gifttrankgabe interpretiert werden.
Aufgrund der Befunde des Dorffriedhofes von Tall Ahmad al Hattu (ED I; Osttigrisgebiet) und deren Interpretation durch Sürenhagen und Eickhoff, kommt Dietrich Sürenhagen in seinem 2002 in der Festschrift Oates veröffentlichten Beitrag Death in Mesopotamia: The 'Royal Tombs' of Ur Revisited in Hinblick auf die Befunde der Royal Tombs zu zwei grundsätzlichen Fragestellungen: 1. Handelt es sich bei diesen Gräbern tatsächlich um die Gräber von "high ranking people with 'servants'"? 2. Fanden die Bestattungen einer Schachtgrabanlage tatsächlich gleichzeitig statt? Sürenhagen verneint und vertritt stattdessen die Auffassung, dass die Royal Tombs "multiple burials, i.e. collective graves" waren; die Bestattungen einer Anlage seien nicht simultan erfolgt. Bezogen auf RT.1054 schlägt Sürenhagen in Verneinung der Vorgaben Woolleys vor: "(...) Eine viel plausiblere Annahme ist, dass die so genannte Hauptbestattung nur die der zuletzt bestatteten Person ist und die Skelettreste im Vorhof (vielleicht auch die Opfergaben) frühere Bestattungen in der Kammer darstellen. Eine entsprechende Interpretation erscheint auch für das Zweikammergrab RT.777 möglich, dessen kleinere Kammer Schädeldepots enthält " (Sürenhagen 2002: 332). Bezogen auf die RTs.789/800 argumentiert Sürenhagen, dass im Falle von RT.789 das Skelett der Hauptbestattung nicht im Zusammenhang einer Beraubung der Grabkammer mitgenommen wurde, sondern: "Die Überführung des Leichnams in ein anderes Grab ist ebenso denkbar. Daraus folgt, dass es sich bei den zahlreichen Schädeln außerhalb der Grabkammer eher um Ablagerungen von Schädeln handelt als um ursprünglich intakte Überreste von In-situ-Bestattungen. Wenn diese Interpretation (...) zutrifft, dann können die Mehrfachbestattungen in Ur nicht als Überreste von Höflingen oder königlichen Dienern angesehen werden, die zusammen mit ihrem Herrn oder ihrer Herrin in den Tod gingen, sondern als Zweitbestattungen von Leichen, die möglicherweise ursprünglich an einem ganz anderen Ort bestattet worden waren. Wenn diese Interpretation zutrifft, dann ist die bisherige Zuordnung zum Hauptbegräbnis der Soldaten und der beiden am Ende des Dromos bestatteten Wagen ungültig" (Sürenhagen 2002: 336). Bezogen auf RT.800 vertritt Sürenhagen den Standpunkt, dass das Skelett auf der Bahre – also die Bestattung der Königin Pû'abī - lediglich die zuletzt in der Grabkammer beigesetzte Bestattung sei. Sürenhagen: "Es wäre nicht gerechtfertigt, alle Opfergaben in der Kammer, die zu einem Haufen zusammengeschoben worden waren, dieser Leiche zuzuschreiben. Es waren auch die Überreste anderer Skelette vorhanden, und einige der Gegenstände könnten ursprünglich zu ihnen gehört haben. Die Situation im Vorhof und im unteren Teil des Dromos (...) spricht eher gegen als für eine gleichzeitige Bestattung aller Leichen und Ablage aller Opfergaben" (Sürenhagen 2002: 336).
Jüngst hat Gianni Marchesi die Frage "Who Was Buried in the Royal Tombs of Ur?" (2004) erneut gestellt und sie vorrangig mittels einer Untersuchung des epigraphischen Quellenmaterials zu beantworten gesucht. Marchesi beginnt mit einem Resümee des Forschungsstandes zur gestellten Frage. Seine Argumentation entwickelt er dann vorrangig in Auseinandersetzung mit den von Moorey 1977 eingenommenen Positionen. Hinsichtlich Mooreys Argument, dass der Status und damit die zugestandene Form der Grabanlage sowie die Anzahl der sog. Gefolgsleute einer männlichen Hauptbestattung abhängig gewesen sein mag von ihrem "divine or semi-divine status", bemerkt Marchesi nach ausführlicher Sichtung der einschlägigen schriftlichen Quellen, dass es für die Zeit vor Narām-Sîn (von Akkade) keinerlei Hinweise auf eine Vergöttlichung von Herrschern zu ihren Lebzeiten gibt. Marchesi: "Der König wurde in der ED-Zeit ideologisch noch als derjenige konzipiert, der von der Gottheit unter vielen auserwählt worden war. Er war "der gute Hirte", der Amtsträger, der dazu berufen war, das Vermögen der Gottheit zu verwalten. Natürlich war er eine herausragende Persönlichkeit, die von den Göttern selbst geschaffen und erzogen wurde, aber dennoch ein Mensch." (Marchesi 2004: 168-169).
Die von Moorey erneut ins Spiel gebrachte Möglichkeit, dass die sog. Gefolgschaftsbestattungen aufgrund eines göttlichen oder gottähnlichen Status der männlichen Hauptbestattungen vorgenommen wurden, weist Marchesi somit zurück. Er argumentiert in diesem Zusammenhang, dass es aber wahrscheinlich ist, dass die herrschende Elite von Ur sicherlich Versuche unternommen hat, den hierarchischen Abstand zwischen ihrer Position und der 'Gemeinschaft' zu vergrößern; die Royal Tombs seien wahrscheinlich vor diesem Hintergrund zu interpretieren. Wie dargelegt erklärt Moorey den Status einer weiblichen Hauptbestattung über deren Beziehung zum Gott Nanna, also darüber, ob sie in ihrem Leben als "wife" dieses Gottes fungierte und somit die Position einer Hohepriesterin des Gottes erfüllte. Marchesi notiert hierzu: "Das Amt der Hohepriesterin des Nanna ist in der Tat für die ED-Zeit belegt. Damals wurden Frauen, die mit diesem Amt ausgestattet waren, als (nu)nunusx (MUNUS) (nus)-zi-(d)nanna bezeichnet. Doch keine der Damen, deren Siegel auf dem königlichen Friedhof von Ur gefunden wurden, trägt diesen Titel" (Marchesi 2004: 170). Bezüglich des im RT.1237 gefundenen Siegels mit der Inschrift "dumu-giparx (KISAL)" argumentiert Marchesi, dass es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um einen Personennamen handelt und nicht um einen Titel. Der Name "Kind des Gipar" würde dann belegen, dass es im Frühdynastikum in Ur ein gipāru (später: Wohnsitz der Priesterinnen des Nanna) gegeben hätte, jedoch sei ein einzeln im Grabschacht liegendes Siegel mit dieser Inschrift keinesfalls ein Beweis dafür, dass die Hauptbestattung dieser Anlage respektive weibliche Hauptbestattungen der Royal Tombs schlechterdings Hohepriesterinnen gewesen seien. In jedem Fall bedeutet das Zeichen 'NIN', laut Marchesi besser als 'ereš' zu lesen, "lady" (akk. bēltu) oder "queen" (akk. šarratu) - es gibt keinen Beleg für "EREŠ/NIN as a logogram for 'high priestess'" (Marchesi 2004: 177). Vergleiche beispielsweise die Inschrift des Siegels der Nintur (auch Ninbanda gelesen): nin-tur ereš / dam mes-an-né-pà-da, "Nintur, Königin, Gattin (dam) von Mesanepada" sowie die schon zitierte Inschrift eines Metallgefäßes aus dem Grab PG.755: nin-tur ereš, "Nintur, Königin". "Daher", so Marchesi, "kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass Pū-abum459 [= Pû-abī; HV] auch eine Königin von Ur war " (Marchesi 2004: 176). Selbstverständlich lässt sich spekulieren, ob die Königin nicht auch als eine Hohepriesterin des Nanna agierte. Tatsache ist aber: " Das Siegel von Pū-abum weist sie als Königin und nicht als Hohepriesterin aus, und als Königin wurde sie mit solcher Pracht und mit der Ermordung ihrer Dienerschaft bestattet." (Marchesi 2004: 176).
Hinsichtlich der von Moorey zitierten Passage aus The Exaltation of Inanna = NIN ME ŠARA - Mooreys argumentativer Hauptstütze - notiert Marchesi, dass die betreffenden Zeilen inzwischen anders gelesen werden. Wie Marchesi ausführt, gründete die Übersetzung von Hallo auf einem einzigen Manuskript. Zwischenzeitlich sind mindestens sechs weitere Manuskripte dieses Textes bekannt, die aber in der entscheidenden Zeile (Z. 99) nicht ì-ug5-ge-dè-e· schreiben, sondern vielmehr ì-ug5-gedè- en "Ich werde sterben". Šìr kù-g̃á-ke4-e· bedeutet auch nicht, so Marchesi, "bei (dem Klang) meines heiligen Liedes", sondern vielmehr "wegen meines heiligen Liedes". Folglich müsste die betreffende Zeile erst recht rekonstruiert und übersetzt werden: ·ìr kù-g̃á-ke4-e· ì-ug5-ge-dè-en Soll ich wegen meiner heiligen Lieder sterben?" (Marchesi 2004: 173).
Zurecht notiert Marchesi: "So interpretiert, hat es eigentlich überhaupt keine Verbindung zu dem was einige Jahrhunderte zuvor auf dem königlichen Friedhof von Ur geschah " (Marchesi 2004:174).
Marchesi: "Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die verfügbaren epigraphischen Zeugnisse es uns erlauben, nur zwei der Hauptbewohner der sogenannten Königsgräber mit Sicherheit zu identifizieren: beide waren Königinnen [Pû-abī (RT. 800); Ašusikildingir462 (RT.1050)]. Der unbenannte Mann, der in PG 755 bestattet wurde, war aller Wahrscheinlichkeit nach kein König, sondern ein Kronprinz. So spärlich die Belege auch sein mögen, die für diese Gräber vorliegen, so sehr stützen sie doch die ursprüngliche Annahme Woolleys, dass es sich bei den durch rituelle Tötungen und gebaute Kammern gekennzeichneten Gräbern tatsächlich um königliche Denkmäler handelt." (Marchesi 2004: 185-186).
Ursula Hellwag (1998) berichtet über die Funde von Menschenopfern durch Lehmann-Haupt in Urartu: Von Lehmann (damals noch ohne -Haupt) stammt auch die erste Mitteilung über das sogenannte "Totenhaus" aus Toprakkale, das Zimansky mit den Knochenfunden von Bastam vergleicht, er zitiert jenen wörtlich: "Dasselbe befindet sich auf dem westlichen Hang des Toprakkaleh-Felsens, südlich von der Südwestfront des Tempels gelegen, etwa auf der halben Höhe des Hanges, und repräsentirt eine lang gestreckte Anlage. "Haus" darf man es eigentlich nicht nennen, weil nur an der östlichen, sich an den Felsenhang anlehnenden Seite Mauerwerk, und zwar solches aus schönen Hausteinen, strekkenweise bemerkbar ist, während auf den anderen 3 Seiten bisher keinerlei Mauerwerk nachzuweisen, höchst wahrscheinlich auch keins vorhanden gewesen ist. In dem hier am Bergeshange aufgehäuften Erdreich bemerkt man grosse Lagen von menschlichen Knochen, untermischt mit zahlreichen Thierknochen; diese Lagen laufen mit dem Berghange parallel, also schräg hinab, und sind von einander durch 30 bis 40 cm tiefe Erd- und Lehmschichten geschieden. Wir zählten an einer Stelle 4 solcher Schichten; an anderen, tieferen, mögen 6 bis 7 Schichten vorhanden gewesen sein." Lehmann beschreibt im Fundzusammenhang zahlreiche Gefäßscherben von Pithoi und Krügen, verziert und mit Maßangaben, von denen er vermutet, daß sie schon vor den "Leichen" hier zerschlagen abgelegt worden waren. Dann fährt er fort: "Die einzelnen Knochenschichten sind für eine Lage menschlicher Leichen meist viel zu dick; es scheint, dass dort mehrere Körper übereinander liegen. Was besonders auffällig ist, ist der Umstand, dass fast gar keine menschlichen Schädel oder Überreste derselben hier gefunden werden; es scheint danach fast so, als ob alle, oder doch fast alle hier beigesetzten Leichen (mit verschwindenden Ausnahmen) die von Enthaupteten gewesen seien, deren Köpfe anderweitig placirt wurden." Weil der Tempel so nahe liegt, denkt Lehmann an Menschenopfer, die man dort dem Gott ijaldi dargebracht habe. Diese Interpretation wird von den Fachleuten inzwischen allgemein abgelehnt. Aus seiner Fundortbeschreibung und dem Material selbst lassen sich nur schwer sachliche Schlüsse ziehen oder Vergleiche anstellen, eher lädt beides zu weiteren Spekulationen ein.
1931 wiederholt Lehmann-Haupt seinen Erstbericht, das "Totenhaus" tauft er um in "Totenterrasse", sonst aber reichert er die Interpretation weniger mit sachlichen Ergänzungen als mit zahlreichen Vermutungen über das "urartäische Menschenopfer" an, das er auch in der urartäischen Literatur nachweisen möchte (468-477). Dieser Beleg beruht aber auf einer falschen Lesung (van Loon 1966, 41; vgl. auch Zimansky 1979, Archaeology 32 11/12, 53; 1988, Bastam II, 120).
Ging es bereits an anderer Stelle[5] um die Assyrer, genauer um Assurbanipal und sein Zitat vom „Dahinschlachten der Feinde“ als Menschenopfer für seinen Großvater Sanherib, so sieht das Akio Tsukimoto in seinem Bericht „Untersuchungen zur Totenpflege (kispum) im alten Mesopotamien“ in der Zeitschrift „Alter Orient und Altes Testament“ Band 216, etwas anders:
Assurbanipal hat später in seinen Annalen berichtet, daß er bei der Eroberung der sich gegen ihn empörenden Stadt BabyIon die Leute, die dort noch am Leben geblieben waren, bei den Kolossen niedermetzelte, und zwar "bei der Totenpflege für ihn", nämlich für seinen Großvater Sanherib, der wahrscheinlich auch bei den Kolossen ermordet worden war: „Die übriggebliebenen Leute - beim Stierkoloß, wo man (od. sie) Sanherib, meinen Großvater, meinen Erzeuger, niedergeschlagen hatte(n), diese Leute habe ich nun dort bei der Totenpflege für ihn niedergeschlagen.“
Das Hinschlachten der Leute "bei der Totenpflege" ist hier meiner Meinung nach eine literarische Formulierung von dem Vergeltungsakt Assurbanipals für seinen ermordeten Großvater. Der Text soll nicht so gedeutet werden, daß Assurbanipal hier seine Feinde hingeschlachtet und sie als "Menschenopfer" zum kispum für Sanherib dargebracht hat. Das Hinschlachten der Feinde und das Darbringen des kispum für Sanherib sind zwei verschiedene Taten des Assurbanipals. Auf jeden Fall kann man aus dieser Stelle des Textes das Ehrfurchtsgefühl Assurbanipals gegen seinen verstorbenen Großvater ablesen.
A.R.W.Green hat versucht, die Spuren des Menschenopfers in Mesopotamien hauptsächlich archäologisch festzustellen. Ders., The Role of Human Sacrifice in the Ancient Near East, Missoula 1975. Als einzigen schriftlichen Beleg für das Menschenopfer in Mesopotamien zitiert er offensichtlich diese Stelle (Asb. Pr.A iv 70ff.), ohne daß er den Text nachprüft (er verwechselt dabei Assurbanipal mit Asarhaddon). Wieter in denselben Annalen trifft man auf den auffallenden Bericht über eine Vernichtungsaktion Assurbanipals, der die Gräber der elamischen Könige zerstörte: „Die Gräber von ihren früheren und späteren Königen, die Assur und Ischtar, meine Herren, nicht gefürchtet hatten, die die Könige, meine Väter, beunruhigt hatten, habe ich zerstört, zerkratzt und die Sonne sehen lassen. Ihre Knochen schleppte ich nach Assur. Ich gab ihren Totengeistern Ruhelosigkeit. Ich beraubte sie ihrer ‚Totenpflege‘ (und) Wasserlibation“ (Ende Zitate von Tsukimoto).
Ich möchte ergänzen, dass Assurbanipal die gefangenen Prinzen der besiegten Elamer dazu zwang, selbst die Knochenmühle zu betätigen, in welche die Gebeine ihrer Vorfahren geschüttet wurden, um sie zu zermahlen, zu zerstreuen und so ihrer Totenruhe zu berauben. Das ist es, was er mit denWorten umschreibt, „Ich gab ihren Totengeistern Ruhelosigkeit“.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die älteste Religion der Menschheit, der sumerische Urglaube, ein humanistischer Glaube war und daher natürlich keine Menschenopfer kannte. Diese Praktiken sind – wenn überhaupt - wohl erst in den späteren semitischen und hamitischen Religionen entstanden. Die semitischen Völker in der unmittelbaren Umgebung der Sumerer, also die Akkader, Babylonier und Assyrer, waren gegen solche Entartungen ebenso gefeit wie die Sumerer selbst, denn sie folgten den sumerischen Kulten und der dahinter stehenden Theologie getreu. In Syrien oder Karthago mag es vereinzelt Menschenopferkulte gegeben haben. Aber selbst das ist wissenschaftlich keineswegs unumstritten, und der Beweis steht und fällt manchmal nur mit der "Lesart" einzelner Worte einer Inschrift.
Zu einem massiven Problem wird die Praxis der Menschenopfer groteskerweise in der historisch jüngeren griechischen Antike, die sonst gemeinhin als human und philosophisch ausgerichtet gilt. Eine besondere Rolle, ja oft den einzigen Anlass zur Diskussion, spielt die Polemik einiger alttestamentlicher Autoren, die nicht müde wurden, die antiken altorientalischen Religionen als minderwertig und abstoßend darzustellen, natürlich regelmäßig garniert mit dem erfundenen Vorwurf von Menschenopferkulten.
Dank der unermüdlichen Arbeit der Religionswissenschaften, der Altorientalistik und der vorderasiatischen Archäologie in den letzten 100 Jahren, hat sich der Schleier über einer Epoche gelüftet, von der man uns glauben machen wollte, sie sei dunkel und grausam gewesen. Heute können wir die Wirklichkeit unverzerrt sehen, und sie zeigt sich überall hell und licht. Es ist eine große Genugtuung und ein Zeichen für bessere Zeiten, dass es den JHWH-Eiferern und Verleumdern des traditionellen Glaubens nicht gelungen ist, die Wahrheit für immer unkenntlich zu machen. Ebenso müssen wir denen dankbar sein, die uns darauf aufmerksam gemacht haben, dass Herodot und andere griechische Autoren sich in ihren mesopotamischen Reisebeschreibungen jeden Bären aufbinden ließen, ohne sich auch nur die geringste Mühe zu machen, eigene Nachforschungen anzustellen. Es bleibt ein Rätsel, warum sich selbst moderne Wissenschaftler so lange auf diese Schwindeleien verlassen haben.
In beiden Fällen stellt man mit Bestürzung fest, wie hartnäckig sich Traditionen halten und wie wenig der Einzelne dagegen gewappnet ist, willkürlich erfundenen Geschichten auf den Leim zu gehen - man muss da die aktuellen Gefahren einer "künstlichen Intelligenz" gar nicht erst heraufbeschwören. Man kommt wohl nirgendwo umhin, bei der Erschließung historischer Wissensgebiete künftig im besten Sinne dekonstruktivistisch vorzugehen.
[1] Jan Assmann, „Vom Poly- zum Monotheismus. Originalveröffentlichung in: Volker Gerhardt, Klaus Lucas, Günter Stock (Hg.), Evolution. Theorie, Formen und Konsequenzen eines Paradigmas in Natur, Technik und Kultur, Berlin 2011, S. 153-164
[2] Morris Jastrow, 1893, The Religion of Babylon and Assyria.
[3] Zeitschrift fürAssyriologie und verwandte Gebiete Bd. 39 (1930) „Menschenopfer bei den alten Sumerern“.
[4] Franz Böhl wurde ab S. 10ff hier ausführlich zitiert.
[5] Franz Böhl, „Menschenopfer bei den alten Sumerern“, zitiert hier auf sSeite 11.
1 Rezension
Vincent Krauß
11 Jun 2024
Bei allem Respekt, Ihre historischen Kenntnisse sind unbestritten aber Ihre Schlussfolgerungen in meinen Augen nicht nachvollziehbar. Sie klammern beispielsweise Folgebestattungen aus dem rituellen Opferungskontext aus und schließen damit eine Vielzahl von Beweisen mit einem intellektuellen Schachzug aus. Die Definition von "Menschenopfern im engeren Sinne" ist bereits eine höchst fragwürdige Definition, da jedes Menschenleben, welches in irgendeiner Form beendet wurde aus rituellen / symbolischen oder sonstigen unnatürlichen Gründen bereits eines zu viel ist und auf hochgradig psychopathische Herrscherfamilien schließen lässt.
Die Beweisführung auf Grund historischer Grabstätten wie dem Friedhof in Tophet ist ebenfalls fragwürdig. 20% der Kinder waren Totgeburten, was sagt mir das über die anderen 80%? Dann überprüfen Sie die Überbleibsel auf einen Schnitt an der Kehle, da dieser EVENTUELL stattgefunden haben soll, vor der Opferung, wobei beispielsweise andere historische Darstellungen erklären, dass die Trommeln während der Opferung besonders laut geschlagen wurden, damit das Schreien der Babys nicht vernommen werden konnte, was beispielsweise auch mit Menschen von 2-5 Monaten geschehen sein kann.
Römische Schreiber mögen verteufelt haben, das haben amerikanische bei den Nationalsozialisten auch. Deswegen war Mengele trotzdem keine Fiktion. Ich würde gerne mehr schreiben, aber maximale Anzahl der Wörter sind erreicht...
Die Beweisführung auf Grund historischer Grabstätten wie dem Friedhof in Tophet ist ebenfalls fragwürdig. 20% der Kinder waren Totgeburten, was sagt mir das über die anderen 80%? Dann überprüfen Sie die Überbleibsel auf einen Schnitt an der Kehle, da dieser EVENTUELL stattgefunden haben soll, vor der Opferung, wobei beispielsweise andere historische Darstellungen erklären, dass die Trommeln während der Opferung besonders laut geschlagen wurden, damit das Schreien der Babys nicht vernommen werden konnte, was beispielsweise auch mit Menschen von 2-5 Monaten geschehen sein kann.
Römische Schreiber mögen verteufelt haben, das haben amerikanische bei den Nationalsozialisten auch. Deswegen war Mengele trotzdem keine Fiktion. Ich würde gerne mehr schreiben, aber maximale Anzahl der Wörter sind erreicht...