Inanas Tod und Auferstehung - Ein Ostergeschehen.

Direkt zum Seiteninhalt

Inanas Tod und Auferstehung - Ein Ostergeschehen.

Zentrum für Sumerische Studien
Veröffentlicht von Wolf Wieland in Religion · 27 April 2023
Tags: Inana
"Inanas Gang in die Unterwelt" war eine wichtige Erzählung im alten Mesopotamien und handelt von der Göttin Inanna, die sich auf eine gefährliche Reise in die Unterwelt begibt. Diese Erzählung hat im Laufe der Zeit viele Deutungen und Interpretationen erfahren, eine davon hat mit der christlichen Passion und dem Osterfest zu tun. In diesem Aufsatz soll dieser Zusammenhang näher beleuchtet und mögliche Parallelen zwischen den beiden Ereignissen untersucht werden.

Inana ist die sumerische „Königin der Erde und des Himmels“. Sie ist eine Göttin, deren Popularität seit Jahrtausenden ungebrochen ist. Sie ist eine Persönlichkeit der schärfsten Gegensätze, weshalb sich an ihr und ihren Kultanhängern die Geister scheiden. Inana kann sich mit den Huren von Uruk einlassen, aber auch die sittsame Geliebte ihres göttlichen Freundes sein. Sie tritt als zartes Mädchen auf, aber auch als wilde Kämpferin in der Schlacht, um den Feinden persönlich den Kopf abzuschlagen. Den Waisen und Verlassenen ist sie eine zärtliche Freundin und Ratgeberin, die sich selbstlos für ihre Schützlinge opfert; wer sie sich zum Feind macht, muss um sein Leben fürchten. Inanas Umzüge und Prozessionen werden von Transvestiten beherrscht, die mit zotigen Ausrufen und lasziven Bewegungen den Abscheu der Bevölkerung erregen, ihre Priester müssen mit Fistelstimme singen und sich weiblich bewegen. Inana selbst verwandelt sich ab und zu in einen Mann, um später als Frau in Gestalt einer Hure mit 70 Männern zu schlafen. Inana ist auch eine sehr ehrgeizige Göttin. Um möglichst viel Macht auf sich zu vereinen, stiehlt sie Enkis „göttliche Kräfte“, nachdem sie ihn unter den Tisch getrunken hat. Dennoch wagt es kein Mesopotamier, ihr nicht den höchsten Respekt zu zollen.

Jesus Christus ist uns allen aus der Bibel bestens bekannt, so dass wir seine Persönlichkeit nicht weiter herausarbeiten müssen. Lassen wir dagegen die Beschreibung der Inana auf uns wirken, so erkennen wir, dass Christus und Inana zwei Wesen sind, wie sie unterschiedlicher nicht sein können. Dennoch wollen wir es wagen, aus dem Kontext des Neuen Testaments wie aus dem der altorientalischen Mythologie zwei Ereignisse, zwei Erzählungen herauszulösen und nebeneinander zu stellen: Die Passion Christi und Inanas „Gang in die Unterwelt“. Trotz aller Unterschiede in Motiv und Handlung finden wir die gleiche Botschaft:

Bereits formal gibt es Parallelen. So ist Christi Passion bekanntlich in 14 Stationen gegliedert. Ebenfalls 14 Stationen finden wir bei „Inanas Gang in die Unterwelt“:

1.    Inana begehrt Einlass am Unterwelt-Palais Ganzer
2.    Sie durchschreitet das erste Tor und verliert ihren Turban
3.    Sie durchschreitet das zweite Tor und verliert ihre Lapislazuli-Kette
4.    Sie durchschreitet das dritte Tor und verliert ihr Geschmeide mit den eiförmigen Steinen
5.    Sie durchschreitet das vierte Tor und verliert ihr Brustband
6.    Sie durchschreitet das fünfte Tor und verliert ihren Ring
7.    Sie durchschreitet das sechste Tor und verliert Maßstab und Maßband
8.    Sie durchschreitet das siebte Tor und verliert ihr Staatsgewand
9.    Sie entkleidet sich vollständig und kauert nieder
10.  Sie wird vor ihre Schwester Ereschkigal geführt
11.   Sie stößt Ereschkigal vom Thron und nimmt selbst dort Platz
12.   Die sieben Anuna-Richter beschließen ihren Tod
13.   Inana wird getötet
14.   Inanas Leiche wird an einen Haken gehängt.

Der am Kreuz gestorbene Christus wird ins Grab gelegt. Drei Tage später überwindet er den Tod und erscheint seinen Jüngern. Ähnlich ergeht es Inana: Drei Tage nach ihrem Tod sucht ihre Ministerin Ninschubur die Götter Enlil, Nanna und Enki auf. Die ersten beiden wollen nicht helfen, weil sie der Meinung sind, dass Inana durch ihr törichtes Handeln selbst schuld ist. Nur Enki spricht nicht von Schuld, sondern vom Leid, das ihn berührt. Er erschafft zwei winzige Wesen, die durch jede Ritze und jedes Schlüsselloch dringen können, und stattet sie mit dem Kraut und dem Wasser des Lebens für Inana aus. So versorgt, kann Inana am dritten Tag auferstehen und in einem Triumphzug über den besiegten Tod die Unterwelt lebendig verlassen. Damit ist die Geschichte zwar noch nicht zu Ende, aber in unserem Zusammenhang nicht weiter von Interesse. Wenden wir uns daher gleich der Bedeutung zu, die dieser Erzählung in Sumer und seinen kulturellen Nachfolgern beigemessen wurde.

Dazu muss man wissen, dass die gesamte sumerische Mythologie nicht nur ihre regelmäßigen Leser hatte, sondern auch den Rahmen oder Inhalt besonderer Gottesdienste und Feste bildete, bei denen die Erzählungen zum Teil konzertant, szenisch oder opernartig aufgeführt wurden. Ebenso ist belegt, dass die Mythologie auch in besonderen Umzügen thematisiert und vom Volk gefeiert wurde. Man darf sich die sumerische Mythologie also nicht als eine Sammlung von Geschichten vorstellen, die man beliebig wahrnehmen konnte oder auch nicht, sondern muss sie als wesentlichen Bestandteil der Religion begreifen.
Wie bei allen Zeugnissen der sumerischen Religion wurden auch zu den mythologischen Erzählungen keine Kommentare gefunden, die die psychologische oder theologische Deutung der Texte erleichtern könnten. So bleibt die Auslegung leider uns überlassen. Hermann Hesse notierte beispielsweise: „Es ist ein Abstieg in die verworrenen Tiefen der Seele, der uns den Weg nach oben weist“. So mag sich Inana gefühlt haben, als sie ein Attribut nach dem anderen abgeben musste, bis sie schließlich schutzlos und nackt vor dem Hauptmann der Torwächter kauerte. Dieses Schicksal hatte ihr ihre Schwester Eresch­kigal bestimmt. Wollte sie damit Inanas Stolz brechen? Wollte sie Inana zur Besinnung bringen? Es wäre naheliegend, aber das haben schon andere vor ihr versucht. So resigniert Enki gegenüber der Göttin bei anderer Gelegenheit: „Du wirst deiner Bewunderer, die zu dir aufschauen, nie müde, schöne Inana: Aber wie man die Seile knüpft, um in die TIEFE zu gelangen - davon weißt du nichts“. Und das bewahrheitet sich sogleich in der Unterwelt. Kaum wird Inana vor Ereschkigal geführt, stößt sie ihre Schwester vom Thron und setzt sich selbst darauf. Archaisch und bedrückend klingt die Schilderung dessen, was dann geschah: „Die Anuna - die sieben Richter - trugen ihren Beschluss gegen sie vor. Sie blickten auf sie - es war ein Blick des Todes. Sie sprachen zu ihr - es war eine Rede des Grolls. Sie schrien sie an - es war ein Geschrei von Beschuldigungen. Die gequälte Frau wurde schließlich in einen Kadaver verwandelt und an einen Haken gehängt“.

Die spirituelle Bedeutung dieser Erzählung wird heute gern als eine Reise der Selbstentdeckung be­trach­tet. In dem Moment, wo Inana das erste Tor der Unterwelt durchschreitet, verlässt sie die Welt des Lichts und geht ins Dunkel hinab. Dieser Abstieg wird oft als symbolische Reise in die Tiefen unseres Bewusstseins verstan­den. In dieser Erfahrung entdeckt Inana verschiedene Aspekte ihrer Identität und Natur auf eine Weise, die sie zuvor noch nicht gekannt hat. Der Prozess der Unterwelt-Reise kann als Weg der Transformation verstanden werden. Er ist ein spiritueller Leitfaden dafür, dass das Durch­schrei­­ten von dunklen und schwierigen Erfahrungen zu Wachstum und Selbsterkenntnis führen kann.
Zum Beispiel hat die bekannte Mythologin und Anthropologin Dr. Clarissa Pinkola Estés diese Geschich­te in ihrem Buch "Die Wolfsfrau – Die Kraft der weiblichen Urinstinkte" aufgegriffen. Sie deutet die Erzählung als einen Weg, um die tiefsten Aspekte unseres Inneren zu erforschen und zu heilen. Auch der Psychologe und Autor Carl Gustav Jung hat Inanas Gang als eine Reise in unser Unterbewusstsein interpretiert. Er sah die Geschichte als einen archetypischen Prozess der Selbstfindung, bei dem die Men­schen sich mit dem Schatten ihrer Persönlichkeit auseinandersetzen müssen, um schließlich ge­stärkt aus dieser Erfahrung hervorzugehen.

Das Prinzip der Selbstheilung und Selbstbefreiung, wie es in modernen Vorstellungen vorkommt, ist der sumerischen Religion unbekannt. Dort kann nur Gott durch seine Gnade und Liebe den Menschen heilen und retten. Auch wenn man nicht generell sagen kann, dass mit der Wende zum Christentum die Macht der eigenen Kräfte höher eingeschätzt wird als der Einfluss Gottes, so zeigen sich doch unter­schiedliche Interpretationen. So sagt Jesus von sich selbst: „Ich habe die Welt überwunden“ (Johannes 16,33) und „Ich bin die Auferstehung und das Leben; wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt“ (Johannes 11,25). Eine mögliche Auslegung ist, dass Jesus die Macht hatte, sich selbst von den Toten aufzuerwecken, da er als Sohn Gottes göttliche Kräfte besaß. Man geht also davon aus, dass Jesus sich bewusst entschieden hat, wiederzukommen, um seine Botschaft zu verbreiten. Eine andere, entge­gen­gesetzte Interpretation ist, dass sein göttlicher Vater im Himmel Jesus von den Toten auferweckt hat. Dabei wird angenommen, dass Jesus selbst passiv war und seine Auferstehung das Ergebnis von Gottes Plan war, die Menschheit zu erlösen. Wir sehen also: Der sumerische Glaube an die primäre Allmacht Gottes ist mit der Wende zum Christentum keineswegs verschwunden. Erst mit der Aufklä­rung und erst recht im weiten Spektrum heutiger Psychologie und Esoterik wird Selbstheilung und Selbstbefreiung allgemein ins Auge gefasst und in diesem Zusammenhang nicht mehr von gött­lichen Mächten gesprochen.

Hermann Hesse, Clarissa Estès, Carl Gustav Jung u.a. liefern daher moderne Deutungen der Unter­weltserzählung, die vom sumerischen Verständnis erheblich abweichen. Inanas Selbsterkenntnis auf ihrer Reise führte aber nicht zu ihrer Auferstehung vom Tode. Ihre Existenz wäre beendet gewesen, hät­te sie nicht die Liebe des Gottes Enki wieder zum Leben erweckt. Während die Götter Enlil und Nanna dis­tan­ziert darauf hinweisen, dass Inana selbst an ihrem Schicksal schuld sei und sie deshalb keinen Finger für sie rühren würden, erbarmt sich Enki der Leiden Inanas, ohne nach dem Warum zu fragen, und rettet sie. Sofort beginnt Inanas Aufstieg aus der Unterwelt, und plötzlich treten die schönen und menschlichen Seiten ihres Charakters in den Vordergrund. Das ist die Verwandlung, die sie während ihres Abstiegs erfahren hat.

Wenn wir Ostern als das Fest der Auferstehung verstehen, dann ist „Inanas Gang in die Unterwelt“ zweifellos ein Osterereignis, das seinen Platz gleichberechtigt neben der Passion und Auferstehung Christi einnehmen muss. Es ist das viel ältere, ursprünglichere Ostergeschehen, und es fällt auf, dass Tod und Auferstehung Christi, wie sie die Bibel erzählt, nur mühsam in den Ablauf des 3000 Jahre älteren Inana-Mythos eingepasst zu sein scheinen. Wenn wir Ostern über die Auferstehung hinaus auch mit der Rettung der Menschheit durch die Verheißung des ewigen Lebens durch Christus verbinden, dann finden wir keine Parallele mehr zu Inana. Das christliche Osterereignis wäre dann einzigartig.


5.0 / 5
1 Rezension
1
0
0
0
0

Wolf Wieland
24 Jun 2023
Dies ist eine Probe. Ich bewerte den Artikel als sehr aufklärend.
Zurück zum Seiteninhalt