Sumer, seine Religion, seine "Bibel"
Kaum jemand weiß, dass in der sumerischen Religion der Ursprung von Judentum, Christentum und Islam zu finden ist. Dabei ist die Herleitung einfach: Alle drei Religionen beziehen sich auf Abraham. Der wirkte vor 4.000 Jahren als sumerischer Priester[1] zunächst in der Stadt Ur, dann in Haran. Von dort brach er schließlich zu einer Missionsreise nach Palästina auf, wo er für „seinen Gott Altäre aufrichtete“. Das ist eine Umschreibung für den Bau von Tempeln – als hochrangiger sumerischer Priester verfügte Abraham über die entsprechende Legitimation. Doch wer war sein Gott? Sowohl in Ur als auch in Haran standen seit Jahrtausenden die Hauptheiligtümer des Mondgottes Nanna, einer der ältesten, wichtigsten und ehrwürdigsten Götter Sumers. Viele Forscher nehmen sogar an, dass „Nanna“ viel älter als die gesamte sumerische Religion ist und aus einer nicht mehr identifizierbaren Urzeit stammt. Dessen Symbol, die liegende Mondsichel, schmückte die Dächer der Tempelkomplexe in Ur und Haran. Nanna war der Gott Abrahams, den er nun in Palästina etablierte. Die Juden vereinnahmten Abraham bald als ihren Stammvater – und Nanna nannten sie fortan „Jahwe“. Die Araber bewahrten den Mondgott ebenfalls in ihrem kulturell-religiösen Gedächtnis, und als sie später den Islam gründeten, kam selbstverständlich die Mondsichel Nannas auf die Kuppeln und Minarette ihrer Moscheen – aus Nanna wurde „Allah“. Und die Christen? Sie übernahmen den Gott der Juden. Somit steht im Hintergrund auch heute noch Nanna, obwohl der Christ denkt, er würde den „namenlosen, einzigen Gott“ anbeten.
Die Ziggurat des Mondgottes Nanna in Ur, wissenschaftliche Rekonstruktion der Ruine am Ausgrabungsort.
Die mesopotamische Geschichte erlosch um die Zeitenwende. Erst durch archäologische Grabungen und die Entzifferung der Keilschrift im 19. Jhd. haben wir wieder Kenntnis von der einstigen Hochkultur an Euphrat und Tigris. Und dennoch fand auf unergründlichen Wegen manches Eingang ins Christentum, von dem heute jeder glaubt, es sei dessen ureigene Tradition. So ist das Kreuzzeichen ein uraltes sumerisches Religionssymbol wie auch der Fisch. Die Kasula der katholischen Priester ist das Leinengewand ihrer sumerischen Vorgänger. Die Mitra des Bischofs ist der Kopfschmuck der Oannes-Priester. Die Sakramente der Taufe wie der letzten Ölung sind dem Ritus der sumerischen Religion entnommen. Die Geste des Betens christlicher Priester mit erhobenen Armen ist die exakte Kopie der sumerischen Gebetshaltung.
Wer waren die Sumerer, die „Schwarzköpfe“, wie sie sich selbst nannten? Sie schufen ab dem 6. Jahrtausend im südlichen Mesopotamien die erste Hochkultur der Menschheit mit Großstädten, organisiertem Staatswesen, straffer Arbeitsorganisation, differenzierter Arbeitsteilung, Produktionsplanung und Lagerhaltung. Vieh wurde gezielt gezüchtet, Getreide züchterisch optimiert, das Rad, sowie die Bier- und Weinherstellung wurden erfunden und die Metallurgie. Was Landwirtschaft und Fabriken erzeugten – vom Getreide bis zur Matratze - wurde nach ausgeklügelten Schlüsseln unter das Volk verteilt. Dabei wurden die Schwachen – Witwen, Waise, Behinderte – bevorzugt. Der Marktwert jeglicher Produkte wurde von Wirtschaftsfachleuten täglich in Schekeln Silber ermittelt und notiert. In Schwung halten musste dieses ausgefeilte Wirtschaftssystem der König mit seinem Beamtenapparat. Die Sumerer waren keine „Orientalen“. Als die Königsgräber von Ur in den 20er Jahren untersucht wurden, stellte ein bekannter amerikanischer Anthropologe überrascht fest, dass es sich ohne Ausnahme um Menschen gehandelt hat, die im Erscheinungsbild den heutigen Europäern entsprachen – im Gegensatz zu ihren semitischen Nachbarn im Norden und Westen. Und während man früher glaubte, die Sumerer seien von irgendwoher eingewandert, gewinnt heute die These immer mehr Zustimmung, dass sie vermutlich immer schon dagewesen sind. Die sumerische Sprache ist mit keiner anderen Sprache verwandt. Sie ist eine isolierte Sprache mit komplizierter Grammatik und 10 Kasus. Sumerisch war die Kult-, Literatur- und Diplomatensprache im gesamten fruchtbaren Halbmond und blieb es sogar, als es im 2. Jahrtausend als lebende Sprache nahezu ausgestorben war. Die semitischen Akkader, Babylonier und Assyrer schrieben weiter mehrheitlich sumerisch oder bilingual, d.h., links wurde sumerisch, rechts in Landessprache notiert. Zeitgenossen schwärmten für Sumerisch als besonders wohlklingend und geradezu „magisch“.
Der bisher älteste sumerische Tempel, auf den man gestoßen ist, steht in Eridu und ist etwa 7600 Jahre alt. Sein Innenraum fasst noch keine 20 m², präsentiert sich aber bereits in der „klassischen“ Aufteilung späterer Monumentalheiligtümer. Daraus kann man schließen, dass die Sumerer und ihre Nachfolger eine ungebrochene kulturelle und religiöse Tradition über sechs Jahrtausende hinweg aufrecht hielten. In keiner früheren Kulturschicht ist etwas nachweisbar, was den Glauben an personifizierte Götter plausibel macht. Deshalb ist die Vermutung naheliegend, dass der Glaube an einen anthropomorphen Gott erstmalig durch die Sumerer in die Welt kam - alles davor war Naturreligion.
Alle heutigen Religionen sind Stifterreligionen. Die sumerische Religion hingegen ist ein organisch gewachsener Glaube. Und im Gegensatz zur ägyptischen Religion treten sumerische Götter niemals in Tiergestalt auf. Anfangs wurde vermutlich an einen einzigen Gott geglaubt. Doch zusehends erkannte man immer differenziertere Facetten der göttlichen Kraft, die dann folgerichtig als unterschiedliche Götter angesprochen wurden. Die Götterzahl schwoll dadurch auf einige tausend an, von denen aber nicht mehr als 30 eine tragende Rolle spielten. Die wirkliche Anzahl sumerischer Götter kann nicht ermittelt werden, da viele mehrere Namen tragen: Allein der Hauptgott Babyloniens, Marduk, wird mit 50 Namen angerufen.
Die Sumerer und ihre Kulturfolger verehrten ihre Götter in monumentalen Tempeln, die oft viele tausend Quadratmeter umfassten und sich auf hohen Terrassen inmitten ihrer Städte erhoben. Zur Umrahmung von Gottesdiensten und Festen wurden üppige Instrumentalorchester, Sänger, Sängerinnen und Chöre aufgeboten. Dabei wurden Hymnen und Gebete vorgetragen, wie ich sie in meinem Buch „Ich schreite voll Freude durch Strahlung und Glanz“ gesammelt habe. Es wird angenommen, dass die Musikaufführungen bereits polyphon waren – eine Stufe der Musikkultur, die erst im Hochmittelalter wieder erreicht wurde – und dass mythologische Texte auch szenisch aufgeführt wurden. An Dekoration und Kostümen wurde nachweislich nicht gespart. Dabei sollte man sich die sumerische Musik nicht orientalisch gefärbt vorstellen, vielmehr entsprachen die Tonarten unserem europäischen Musikgeschmack.
Jeder Sumerer hatte einen persönlichen Gott und eine persönliche Göttin, die ihn erschaffen hatten. Vermutlich wurde ihm dieses Götterpaar bei einem Taufritual zugesprochen. So betet ein Toter, nachdem er aus seinem Grab aufgeweckt wurde zum Zweck der Reise in die Unterwelt (Ich schreite voll Freude, Seite 241):
Neben „Gott und Göttin“ kann sich der Mensch jederzeit auch an die „großen Götter“ wenden. Es braucht dazu keine Formalitäten. Ob im Hause oder auf dem Acker – ein persönliches Gespräch mit dem Sonnengott Utu, mit dem Schöpfergott Enki, dem Himmelsgott An oder der einflußreichen Kriegs- und Liebesgöttin Inana ist jederzeit möglich – nur um ein paar Beispiele zu nennen. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau ist stark ausgeprägt, sowohl in der Lebenswirklichkeit des sumerischen Alltags als auch in der Götterwelt. Es gibt Göttinnen und Götter, Priesterinnen und Priester. Die junge Göttin Inana kann sich sogar verlieben, und das findet Eingang selbst in offizielle Preislieder (Ich schreite voll Freude, Seite 330):
Die Liebe bei Mondlicht zu genießen und dabei einen süßen Tag zu verbringen ist kein Widerspruch, weil bei den Sumerern der Tag mit der Nacht beginnt.
Ein wesentlicher Teil der sumerischen Religion ist der Seelsorge gewidmet. Die diesbezüglichen Rituale würden wir heute als psychotherapeutische Behandlung betrachten. Dass sie damals als Abwehr oder Umkehrung von Schadenzauber und Hexerei begründet wurden, macht im Ergebnis keinen Unterschied. Es gibt zahlreiche Sammlungen von Diagnosetexten samt Prognosen und Heilvorschriften. Der Spezialist dieser Verfahren war der Aschipu, der Beschwörungspriester. Die bekannteste Sammlung solcher Beschwörungen ist das Großritual „Maqlu“, das mehrere Tage in Anspruch nahm, und das auch mit der Leberschau eines geopferten Lammes verbunden ist. Der Beginn solcher Rituale wurde auf den Sonnenuntergang gelegt. Hier die Einleitung des Maqlu (Ich schreite voll Freude, Seite 78):
Wie Menschen untereinander, so sehen sich auch die Götter gegenseitig durchaus kritisch. Die schon erwähnte Inana und ihr Vater Enki haben gar einen typischen Generationenkonflikt, der sich bei der Verteilung der Zuständigkeiten für die neue Erde und ihre menschlichen Bewohner entlädt (Ich schreite voll Freude, Seite 262):
Enki ist auch der Schöpfer der Menschheit. Mami, die Geburtsgöttin, erschafft die Menschen auf seinen Befehl hin, damit diese den Göttern ihre schwere Arbeit abnehmen sollen. Sie betrachtet ihr fertiges Werk mit Liebe, aber auch mit Kummer (Ich schreite voll Freude, Seite 23):
Diese Zeilen zeigen die Polarität, die dem Handeln der Götter bereits bei der Erschaffung der Menschheit innewohnt. Alle Texte, die den Fortgang der Welt und das Eingreifen der Götter beschreiben, machen deutlich, dass in der geistigen Welt der höchsten Wesen keineswegs Einigkeit über die weitere Entwicklung besteht, sondern um jedes Weiterkommen hart gerungen werden muss, wobei das Wohlergehen der Menschheit nicht für jeden der Verantwortlichen Priorität genießt.
Die gewöhnliche Sumererin, der gewöhnliche Sumerer, konnte das innerste Heiligtum eines Tempels nie betreten. Dies war nur einem kleinen Teil der Priesterschaft und dem König möglich, denn hier stand man Gott leibhaftig gegenüber, was auch mit Risiken behaftet war. Dennoch konnte jeder Sumerer sich in seinem Gebet persönlich ohne Mittler an jeden Gott des Pantheons wenden, selbst an den Allerhöchsten. Dieser ist An, der König des Himmels, oft einfach nur „der Herr“ genannt. Hier ein Gebet an An, das typisch für die Weise ist, wie die Sumerer zu ihren Göttern gesprochen haben (Ich schreite voll Freude, Seite 100):
Innenraum des Weissen Tempels von Uruk, dem Heiligtum des Gottes An, um 3.500 v. Chr.
Ganz kurz möchte ich noch auf die „Problematik“ der Götterbilder eingehen. Die Juden verunglimpften nach ihrer 40-jährigen Gefangenschaft in Babylon die Babylonier (als Nachfolger der Sumerer damit natürlich auch die Sumerer selbst) als „Götzendiener“. Das heißt, sie behaupteten, dass die Babylonier Götterstatuen als wahrhafte Götter anbeten würden – was in der Tat eine primitive und selbstsuggestive Einstellung gewesen wäre. Wer Verstand und geistiges Interesse hat, kann sich bei 60-jährigem Aufenthalt in fremder Umgebung sehr wohl ein differenziertes Bild der dortigen Religion machen. Doch das wollten die Juden offensichtlich nicht, sondern die Babylonier diffamieren – die Gründe dafür sind nicht bekannt. Faktum ist, dass die Sumerer und Babylonier tatsächlich in den Haupttempeln ihrer Gottheiten Götterbilder aufgestellt hatten. Die besten Bildhauer, Gold- und Silberschmiede gestalteten diese Idealbilder der Götter. Doch damit war keineswegs ein Gott „erschaffen“ worden. Vielmehr bedurfte es monatelanger priesterlicher Zeremonien, um den betreffenden Gott zu bewegen, dass sein Geist in dieses Abbild zum Zweck der Anbetung einziehen möge. Wenn der Gott – dessen Standort natürlich in der geistigen Welt des Himmels gedacht wurde – nicht mitmachte, konnte ihm nicht geopfert, er nicht in einer Götterprozession den Massen gezeigt werden. Zu einem solchen im Abbild dargestellten Gott konnten die Menschen aber auch ohne sein Bild in anderen Umgebungen beten: Auf dem Feld, im Haus, am Fluss – wo immer sie wollten. Es war klar, dass der Gott nicht in ein Abbild „gebannt“ war, sondern dass er nach wie vor so universell verfügbar war, wie auch heute Christen oder Moslems sich den Dialog mit ihrem Gott vorstellen. Götterstatuen der Sumerer und Babylonier sind übrigens bis heute nicht gefunden worden, mit Ausnahme der Alabastermaske der „Dame von Warka“, die vermutlich das Antlitz der Inana darstellt.
Die Erforschung der sumerischen Religion wird seit Ausgang des 19. Jahrhunderts von Altorientalisten in Deutschland und weltweit betrieben. Leider sind die Forschungsgelder seit Jahren rückläufig und daher die Aussenwirkungen nicht mehr sonderlich breit. Die Organisation Regnum Sumericum Spirituale sieht ihre Aufgabe darin, unter Berücksichtigung wissenschaftlicher Quellen, die sumerische Glaubenswelt zu rekonstruieren und alle Zeremonien, Rituale und Anrufungen, die auch dem heutigen Menschen dienlich und heilsam sein können, zu praktikablen Anwendungen zu gestalten und anzubieten. Das Buch „Ich schreite voll Freude durch Strahlung und Glanz“, das im Format DIN à 4 auf 420 Seiten sämtliche relevanten Texte zur sumerischen Religion enthält - Gebete, Epen, Anrufungen und Hymnen – ist die Grundlage dafür und kann als „Bibel der Sumerer“ bezeichnet werden. Alle Texte darin sind in sumerisch bzw. akkadisch und deutsch vorhanden, jeweils begleitet von einem deutschen Einführungskommentar. Um den sakralen Charakter des Buches zu betonen, folgt es im Stil den ersten gedruckten lateinischen Bibeln des Johannes Gutenberg aus dem 15. Jahrhundert. Als Schrift kam die originale Fraktur Gutenbergs von 1456 zum Einsatz. Im Anhang findet sich eine ausführliche Hilfe zum Lesen der gotischen Schrift und zur Aussprache des Sumerischen und Akkadischen. Die Schriftgröße beträgt 14 Pt. Das ist groß genug, um bequem ohne Brille auch aus größerem Abstand lesen zu können. Das 120g starke Werkpapier besitzt ein hohes Volumen und eine pergamentähnliche Steifigkeit, womit Knicken oder Beschädigungen vorgebeugt wird.
Druckwerke, die zur Auseinandersetzung mit unerschlossenen geistigen Welten einladen, sind selten und niemals nach dem Massengeschmack. Dem Rechnung tragend, ist „Ich schreite voll Freude durch Strahlung und Glanz“ nur in kleinster Auflage erschienen und dient hauptsächlich internen Ausbildungszwecken bei Regnum Sumericum Spirituale. Sein Preis liegt daher ähnlich hoch wie ein mittleres juristisches Fachbuch.
[1] Belegt ist das nicht, sondern eine These. Die Wahrscheinlichkeit ist jedoch hoch, dass es so war. Denn Abrahams Vater war tatsächlich Priester am Mondheiligtum in Ur. Der Priesterberuf blieb in Mesopotamien normalerweise in der Familie. Und da Abraham später in Palästina Tempel baute, wird er wohl kaum Viehtreiber gewesen sein.