Christentum und sumerische Religion
Christus in Limbo (Christus in der Unterwelt) von Jan Brueghel d.Ä. (Ausschnitt)
Im Allgemeinen glauben die Sumerer an einen unvergänglichen Wesenskern des Menschen, der als Totengeist schattengleich - aber dennoch individuell - in der Unterwelt weiterlebt. Richtig komfortabel ist es aber dort nicht, es ist eher ein Traum- oder besser gesagt, ein Alptraumleben. Am prägnantesten werden wir über die Unterwelt im Gilgamesch-Epos unterrichtet. Gilgamesch, der König von Uruk, träumt, dass er dort gewesen sei (7. Tafel) und gibt damit die gängige Vorstellung ihrer Beschaffenheit preis:
Nur ein Mensch hatte bisher nicht die Unterwelt als Schicksal: Utanapischti, der mesopotamische Noah, der Menschheit und Fauna mit seiner Arche während der Sintflut rettete, erhielt vom König von Himmel und Erde, Enlil, für seine Verdienste das ewige Leben auf der Insel der Seligen. Gilgamesch traf ihn einst bei seiner Irrfahrt durch die Welt auf der Suche nach dem ewigen Leben. Er fand es nicht, und auch Utanapischti konnte es ihm nicht geben, jedoch ein Kraut des Lebens, mit dem man sich wieder verjüngen konnte - aber Gilgamesch verlor es auf seiner Rückreise. Erschütternd bleibt einem die Rede der Siduri, der Schenkin am Meer - die in Wirklichkeit eine Verkörperung der Göttin Ischtar ist - in Erinnerung, die Gilgamesch auf sein Nachfragen nach dem ewigen Leben antwortet:
Die Gilgamesch-Geschichte ist so angelegt, dass der Leser im mesopotamischen Altertum mit Gilgamesch um die Frage fiebert: Kann es wirklich sein, dass vom Menschen nichts übrig bleibt, als ein Totengeist? Es muss doch möglich sein, dass der Mensch den Tod überwindet, wenn die Götter ihn auch nicht schmecken müssen! Siduris zynische Rede befeuert dieses Aufbäumen noch. Wie wenig lieben denn die Götter die Menschen, dass sie alle mit dem Tod bestrafen, selbst wenn sie noch so gottgefällig leben? Dabei sind die Fähigkeiten der Götter durchaus vorhanden, Tote wieder auferstehen zu lassen - ja, alles, was vergeht, wieder zurückzuholen in neues Dasein. Im Enuma Elisch ist dies eine Götterprüfung des jungen Marduk: Er muss vor den Augen der anderen Götter ein Sternbild in Sekundenschnelle vollständig zerstören, um es anschließend ebenso schnell haargenau wieder entstehen zu lassen. Tote wiedererwecken zu können wird nicht wenigen Göttern des sumerisch-akkadischen Pantheons zugeschrieben. Im Wesen der Götter ist alles, was war, vorhanden, gleichwie alles, was sein wird. Selbst wenn ein Mensch verstorben und sein Körper vergangen ist, können sie ihn wieder von Neuem leben lassen. Ja, selbst wenn sein Totengeist vernichtet wäre - also nichts mehr von ihm übrig wäre, können die Götter ihn - wie jedes Ding, das es in den Weltenweiten gibt oder gab - erneut erschaffen, so wie er war, und ihm das Leben neu verleihen. Das ist vielfältig dokumentiert, und es ist das Wunder des Lebens. Aber wir kennen nicht viele Beispiele, in denen die Götter von ihren Fähigkeiten Gebrauch gemacht hätten.
Ganz anders verhält es sich mit einem anderen Gott, dem Christus Jesus: Er hat - zum ersten Mal in der Geschichte der Götter - jedem das ewige Leben versprochen, der an ihn glaubt. Als er leibhaftig auf Erden wandelte, war das Glauben schon keine Selbstverständlichkeit mehr unter den Menschen, anders als im ehrfurchtsvoll frommen Mesopotamien. Der Christus Jesus war zeitlebens umgeben von Zweiflern und abgestumpften Erbsenzählern. Nichtsdestotrotz hat er das Größte geleistet, was je ein Gott der Menschheit getan hat: Den Tod besiegt und die Menschheit befreit von der Geisel des Todes. Als der Christus Jesus den Tod des Leibes am Kreuz erlitten hatte und in seine Grabeshöhle gelegt worden war, fuhr er hinab in die Unterwelt zu denen, die ihn - den sehnlichst Erwarteten - nicht kennen konnten. Und all die, die guten Willens und guter Gesinnung waren, hat er in der gleichen Weise erlöst, wie die, die unter den Lebenden an ihn glauben durften. Damit hat der Christus Jesus auch alles Volk von Mesopotamien aus dem Halbtod der Unterwelt erweckt, erlöst und zu sich genommen. Die sumerische Unterwelt ist seit dieser Zeit nurmehr ein historischer Ort, ihre Schrecken sind gebannt, sie ist aufgelöst. In der geistigen Welt Sumers sitzt der Christus Jesus neben An im Pantheon, Marduk hat ihm die Enlilschaft mit Freude abgetreten. Vielleicht wird es Zeit für ein neues großes Epos.
Wir wissen den Christus Jesus auch als unseren Erlöser. Der Christus Jesus hat keine neue Religion gegründet. Er ist im Gärbottich der jüdischen Welt aufgetaucht, weil die Juden die direkte Verbindung zur sumerisch-mesopotamischen Religion darstellen, aber leider nicht gläubig werden wollten. Kein anderes Volk befand sich zu dieser Zeit in einem vergleichbaren Spannungsfeld. Die Mehrheit der Juden konnten dem Christus Jesus in ihrer jahwistischen Befangenheit nicht folgen - die Mesopotamier sind ihm wegen seines Erlösungsangebots (als er an der Pforte der Unterwelt erschien) mit brennendem Herzen in die Arme geflogen.
Terah
(Priester im Heiligtum des Nanna in Nippur)
[1] Gilgamesch, in der Übertragung von Wolf Wieland 2016